PopCo
hineingetan. Ich hätte nie damit gerechnet, dass jemand sich das Schmuckstück so genau ansehen
würde wie Miss Hind. Das Schweigen will kein Ende nehmen.
«Also?», sagt Miss Hind.
Wie soll ich da bloß wieder rauskommen?
«Wahrscheinlich ist es ein Schmuckstempel», sagt plötzlich eine Stimme mit einem merkwürdigen Akzent. Ich drehe mich um und
sehe, dass es Roxy ist, die Französin, mit der niemand redet. Französin zu sein ist an dieser Schule noch viel schlimmer,
als keine Eltern zu haben – warum auch immer. «So etwas haben Sie sicher noch nie gesehen», sagt Roxy jetzt zu Miss Hind.
«Solche Pariser Stempel sind nämlich nur auf sehr exklusiven Schmuckstücken, die Sie sich wohl kaum leisten können …»
Über Roxy weiß ich bisher nur, dass sie auf einer englischsprachigen Schule in Paris war und fließend Englisch und Französisch
spricht. Sie ist ein Jahr älter als wir und wird jeden Tag von einem gutaussehenden Mann in Jeans mit einem schicken schwarzen
Wagen von der Schule abgeholt.
Ja
, denke ich,
ich werde sagen, dass mein Vater das Medaillon in Paris für mich gekauft hat
. Doch Miss Hind hat bereits das Interesse verloren. Sie lässt die Kette in den Karton gleiten, und gleich darauf steht sie
auf der anderen Seite des Raumes und drückt Roxy gegen einen rostigen Handtuchspender.
«Du kleines …», zischt sie.
«Lassen Sie sie los, Miss», ruft Emma. «Miss, das dürfen Sie nicht.»
Roxy ist bleich, schaut aber weiterhin herausfordernd. «Schlagen Sie mich ruhig», sagt sie mit ihrem weichen französischen
Akzent zu Miss Hind. «Dann sorgt mein Vater dafür, dass Sie fliegen.»
Diese Sportstunde läuft wirklich gar nicht gut.
Miss Hind lässt Roxy los. «Ihr verfluchten Gören», sagt siezu Emma, Roxy und mir. «Macht, dass ihr hier rauskommt. Sofort!» Eigentlich verwenden Lehrer sonst keine Ausdrücke wie «verflucht».
Michelle, Lucy, Sarah und Tanya betrachten uns ebenso mitleidig wie misstrauisch.
«Wo sollen wir denn hin?», fragt Emma.
«Zur Direktorin. Auf der Stelle!»
In unseren Sportsachen verlassen wir den Umkleideraum. Während wir den Pausenhof überqueren und auf das Hauptgebäude zugehen,
kann ich nur an mein Medaillon denken, das jetzt in diesem Pappkarton liegt. Wie soll ich es bloß wiederkriegen? Ich kann
unmöglich heimgehen und es das ganze Wochenende über hierlassen. Außerdem will ich wieder meine Schuluniform anhaben und nicht
diese scheußlichen Sportsachen. Aber heulen werde ich auf keinen Fall.
«Danke», sage ich zu Roxy.
«So ein Mist», sagt Emma. «Jetzt kriegen wir richtig Ärger.»
Aber irgendwie ist es auch aufregend.
«Wisst ihr, es gibt übrigens gar keinen Pariser Stempel», sagt Roxy, und wir lachen alle drei. Natürlich werden wir Ärger
kriegen, aber gerade jetzt sind wir frei. Nur in mein Lachen mischt sich tiefe Besorgnis. Ich muss mein Medaillon wiederkriegen.
Die Direktorin heißt Miss Peterson.
«Warum seid ihr hier?», fragt sie uns, als wir in ihrem Büro stehen. Es liegt gleich neben dem frischrenovierten Foyer, das
sich wiederum neben der Aula befindet. Hier drinnen ist es heiß und stickig, und es riecht nach Kleber und Schulessen.
«Das wissen wir auch nicht», sagt Roxy überfreundlich. «Es gab ein kleines Problem mit Miss Hind und …»
«Miss Hind hat Roxy an die Wand gedrückt», platzt Emma heraus.
«Wir hatten alle richtig Angst», bekräftige ich.
«Also gut.» Miss Peterson seufzt. «Ich bin sicher, ihr übertreibt, wie alle Mädchen in eurem Alter. Mein Lehrpersonal drückt
doch keine Schülerinnen an die Wand. Nicht wahr, Roxy?»
«Natürlich nicht, Miss», erwidert Roxy. «Das war alles nur ein Missverständnis.» So, wie sie das Wort «Missverständnis» ausspricht,
dauert es eine halbe Ewigkeit. Alle S-Laute klingen weich, sie rollt das R ganz eigentümlich, und statt «-ständnis» sagt sie «-stond-nis». Vorhin, als sie mit uns gesprochen
hat, klang sie viel normaler. Ich frage mich, ob sie ihren Akzent wohl immer übertreibt, wenn sie mit Leuten wie Miss Peterson
zu tun hat. Das würde ich sicher auch machen, wenn ich sie wäre und ein bisschen mutiger, als ich bin.
Miss Peterson seufzt noch einmal. «Ihr seid erst seit zwei Wochen hier», sagt sie. «Dass ich euch jetzt schon bei mir sehe,
ist kein gutes Zeichen. Gar kein gutes Zeichen.» Ich kann diesen Wiederholungszwang bei Lehrern nicht ausstehen. Das klingt
immer, als würden sie Shakespeare
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