PopCo
mit
mir?
Das Tagebuch meiner Mutter stammt aus den sechziger Jahren, als sie noch ein junges Mädchen war, aber ihr Leben scheint Lichtjahre
von meinem entfernt zu sein. Sie ging auf eine Mädchenschule und war ganz versessen aufs Geigespielen. Jeder Eintrag listet
genau auf, wie lange sie an dem Tag geübt hat und ob sie irgendwelche Pickel kriegt! Ich wollte, ich wäre auch auf ihrer Schule.
Warum hat mir eigentlich keiner gesagt, dass es so werden würde? Ich hatte gehofft, das Tagebuch könnte ein Weg sein, meine
Mutter besser kennenzulernen, aber bis auf die Einträge übers Geigeüben und ihre Hausaufgaben steht gar nicht viel drin. Natürlich
habe ich auch deshalb ein schlechtes Gewissen (das schlechte Gewissen ist meine neue beste Freundin), aber ich fühle mich
fast betrogen von diesem Tagebuch. Ich habe es nach heimlichen Botschaften oder codierten Nachrichten abgesucht und absolut
nichts gefunden. Dafür sind die Romane aus der Kiste sehr spannend. In manchen sind sogar schweinischeStellen drin! Obwohl mir eigentlich gar nicht kalt ist, verkrieche ich mich den ganzen Sonntag über mit den Büchern meiner
Mutter im Bett und versuche, gar nicht an die Schule zu denken. Wenn ich bloß irgendeine tödliche Krankheit hätte, damit ich
morgen nicht dorthin zurückmuss! Die Bauchschmerzen fangen gegen sechs Uhr am Sonntagabend an, und ich kann mich kaum darauf
konzentrieren, was meine Großeltern sagen.
***
Ben und ich wachen erst kurz vor dem Abendessen wieder auf. Er steigt mit zerzaustem Haar aus dem Bett und geht ins Bad. Ich
höre ihn pinkeln, dann läuft der Wasserhahn.
«Was willst du zum Abendessen?», fragt er mich, als er wieder ins Zimmer kommt.
«Du brauchst doch nicht …», setze ich an.
«Klappe.» Er grinst. «Sag mir einfach, was du haben willst.»
«Hm. Einfach das, was du auch isst.»
«Hast du was dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?»
«Überhaupt nicht.» Ich gähne. «Mein Gott, ich hätte nie gedacht, dass man so viel schlafen kann wie ich in den letzten zwei
Tagen.»
«Du musst dich eben ausruhen.» Ben geht zur Tür. «Hey, da liegt was.» Er bückt sich und hebt einen weißen Umschlag auf. «Es
steht kein Name drauf. Soll ich …?»
«Nein», sage ich rasch und strecke die Hand aus. «Schon gut.»
Er gibt mir den Umschlag. «Okay. Dann bis gleich.»
«Ja, bis dann.»
Ob das die längere Nachricht meines unbekannten Brieffreunds ist? Ich reiße den Umschlag auf und fasse hinein. Nein, das ist
eindeutig keine längere Nachricht. Der Umschlagenthält nichts weiter als eine weiße Visitenkarte mit einer Handynummer. Und auf der Rückseite steht mit blauer Tinte eine
Nachricht.
Verzeih die Eifersucht, Alice. Falls Du Dich jemals anders entschließen solltest …??! Wie auch immer. Hier hast Du jedenfalls nochmal meine Nummer. G.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Verdammt. Wenn Ben das gesehen hätte! Es ist ja nicht nur eine heimliche Nachricht von
einem anderen Mann, sondern auch noch der Beweis dafür, dass ich mit einem Mitglied der PopCo-Führungsetage romantisch verbandelt
war oder bin. Das ist nicht mehr bloß absurd, sondern zutiefst uncool und daneben. Normalerweise lege ich ja gar keinen Wert
darauf, cool zu sein, aber in diesem speziellen Fall finde selbst ich eine gewisse Coolness durchaus angemessen. Kreative
sind Kreative und Vorgesetzte Vorgesetzte, und damit basta. Man kann diese beiden Gruppen nicht miteinander mischen. Ich denke
daran, wie Georges in seinem schicken Anzug hier im Zimmer stand und mich von oben herab gemustert hat. Ich denke an den Todesdoktor
und sein Vicodin, dann denke ich an Ben, und plötzlich ist das, was wir haben, keineswegs mehr nur Sex. Mit einem merkwürdigen
Déjà-vu-Gefühl stehe ich auf, suche mein Feuerzeug und verbrenne die Visitenkarte, ohne noch länger darüber nachzudenken.
«Wie riecht’s denn hier?», fragt Ben, als er wiederkommt.
«Wieso?», frage ich. «Ich rieche nichts.»
«Ist ja auch egal.» Ben stellt die beiden Tabletts ab, die er mitgebracht hat.
«Was gibt es denn?», frage ich.
«Also … da hätten wir … Zwiebeltörtchen, geschmorten Rotkohl mit Apfel und Rotweinsauce und Kartoffelpüree mit Petersilie und Knollensellerie. Es
hätte auch Bohnen und Fritten gegeben, aber ich dachte, ich nehme lieber die edleren Sachen. Zum Nachtisch Zitronenkuchen
mit Minze. Der eineKoch meinte, sie nennen ihn den ‹Marie-Antoinette-Kuchen›,
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