PopCo
Ohrlöcher machen lassen
und können ihre Stecker nicht herausnehmen, weil sich die Löcher sonst schließen. Diese Mädchen bekommen Heftpflaster, um
sie über die Stecker zu kleben. Das sieht furchtbar blöd aus. Und obwohl meine Freundinnen alle schon seit Urzeiten Ohrlöcher
haben, beschließe ich, mir ganz sicher erst in den großen Ferien welche machen zu lassen (falls meine Großeltern es überhaupt
erlauben). Auf keinen Fall werde ich mit Heftpflastern an den Ohren herumlaufen. Andere tragen wertvolle Kreuze um den Hals,
die sie nicht in den Pappkarton legen wollen, bis Miss Hind ihnen versichert, dass der Karton während der Stunde in den Sportsafe
eingeschlossen wird. Als sie bei mir ist, flüstere ich gerade so aufgeregt mit Emma, dass ich sie kaum bemerke.
«Die Kette, bitte», sagt Miss Hind streng.
Alle schauen mich an. Ich merke, dass ich rot werde.
«Meinen Sie mich?», frage ich wie der letzte Trottel.
«Deine Kette. Nun mach schon.»
«Aber …»
«Her mit der Kette.»
«Aber ich darf sie nicht abnehmen, Miss.»
Jetzt wird sie ärgerlich. «Ich habe langsam wirklich genug von euch Gören. Du legst deine Kette jetzt sofort in den Karton.»
«In der alten Schule haben meine Eltern …» Großeltern kann ich nicht sagen. Niemand hier weiß, dass ich nicht wie jedes normale Kind bei meinen Eltern wohne. Von
den Anwesenden war keiner auf meiner Geburtstagsfete, und selbst wenn, hätten sie trotzdem nicht wissen können, wie ich lebe,
weil das Fest ja in der Dorfhalle stattfand. Alex ist der Einzige, der weiß, dass ich keine Eltern mehr habe. «… haben meine Eltern mir eine Entschuldigung geschrieben. Beim nächsten Mal bringe ich eine neue mit. Ich …»
«Hast du schon mal erlebt, wie Leute geköpft wurden, weil sie beim Sport eine Kette getragen haben? Kein schöner Anblick.
Oder wie jemand blau anläuft, weil er sich mit dem Kreuzkettchen erwürgt, das er niemals abnehmen durfte, weil Jesus sonst
böse geworden wäre? Ich riskiere ganz sicher nicht meine Stelle, weil eine von euch Gören zu störrisch ist und sich nicht
an die Regeln halten will. Keine Ausreden. Leg sie in den Karton.»
Als ich am Verschluss meiner Kette herumfingere, bin ich den Tränen nahe. Ich weiß nicht einmal, wie er aufgeht, weil ich
die Kette noch nie abgenommen habe. Schließlich hilft mir Emma, und ich bin ihr unendlich dankbar dafür. Als ich das Medaillon
in den Karton legen will, kommt mir Miss Hind zuvor und nimmt es in die Hand.
«Was ist das überhaupt?», fragt sie, öffnet den Verschluss und schaut in das Medaillon. Dabei fällt das kleine Foto heraus,
ein Bild von meiner Mutter. Ich will es aufheben, dochMiss Hind ist auch diesmal schneller. Jetzt hält sie das Foto in der einen und das Medaillon in der anderen Hand. Ich hatte
ja gehofft, sie würde sich nur das Foto anschauen, aber es ist schon zu spät. Sie hat den Code gesehen.
Jetzt muss ich garantiert jede Sekunde losheulen. Warum tut sie mir das an?
«Was in aller Welt ist das denn?»
Wäre ich erwachsen, könnte ich jetzt ganz beiläufig sagen: «Ach, das ist von meinem Freund. Eine Liebeserklärung in Geheimtext.»
Oder auch: «Mein Großvater hat sich immer sehr für Verschlüsselungstechniken interessiert. Das ist ein Code und heißt einfach
nur ‹Meiner geliebten Enkelin Alice›.» Aber ich bin ja noch ein Kind.
«Ein Foto von meiner Mutter», sage ich.
«Das meine ich nicht. Diese Zahlen und Buchstaben hier.» Sie liest es laut vor: «2.14488156Ex48. Was soll denn das heißen?»
«Weiß ich nicht», sage ich.
«Wie, das weißt du nicht?» Miss Hind verzieht höhnisch das Gesicht. «Du trägst das Ding um den Hals und weißt nicht, was darin
steht?»
Alle starren mich an. Sogar meine neuen Freundinnen mustern mich plötzlich, als wäre ich komisch.
«Ich weiß es nicht», bringe ich mühsam hervor, und jetzt stehen mir wirklich die Tränen in den Augen. Wenn ich bloß irgendetwas
sagen könnte! Aber mir fällt nichts ein. Ich kann schließlich nicht behaupten, dass es eine Telefonnummer oder ein Geburtsdatum
oder so etwas ist. Kein Mensch läuft mit einem Haufen sinnloser Zahlen in einem Medaillon herum. Keiner. Aber ich kann doch
auch nicht vor versammelter Klasse erzählen, warum ich es trage. Das wäre erstens komisch und total peinlich, und zweitens
hat mein Großvater mir eingeschärft, nie irgendwem von dem Medaillon zu erzählen.Darum habe ich ja auch das Bild
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