PopCo
abgeschnittene rosa Netzstrümpfe über den
Armen, schwarzen Nagellack und rosa glänzende Blowjob-Lippen. Um den Hals hat sie ein rotes Nietenhalsband, das mit einer
Kette an einem ähnlichen Nietenband um ihr Handgelenk befestigt ist. «Was transportiert denn das für eine Botschaft?
Ich bin ein Pornostar
?»
«Mir gefällt vor allem die dezente Sadomaso-Note», sage ich.
«
Für Girls, die gerne shoppen
», sagt Ben.
«Wie bitte?»
«Das ist die Schlagzeile dazu.»
«Tatsächlich.»
Während ich mein Sandwich verzehre, blättert er die ganze Zeitschrift durch.
«Wo ist denn nun eigentlich die Problemseite?», fragt er dann. «Ich dachte, die könnte vielleicht noch ganz interessant sein.»
«Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass solche Mädchen Probleme haben dürfen», sage ich.
***
Es ist Sonntag, und ich krame wieder einmal in der Bücherkiste meiner Mutter. Ich bin eine Detektivin auf Spurensuche –ich fahnde nach Hinweisen, Hinweisen, die mir Aufschluss über das Leben geben könnten. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen,
dass meine Mutter alle Antworten kennen muss. Die Argumentation läuft so: Es gibt keine Antworten, und sie ist nicht hier.
Die Antworten müssen also da sein, wo sie ist. Warum ist sie gestorben? Warum habe ich sie nie richtig kennengelernt? Warum
hat sie mir keine Hinweise hinterlassen? Diese Kiste enthält Millionen von Wörtern, aber ich habe bisher keines gefunden,
das eine Bedeutung für mich hätte. Von den vielen Millionen Wörtern hat sie selbst höchstens tausend geschrieben. Ein paar
Tagebucheintragungen – «Kam wieder nicht weiter mit der Geige» –, ein paar Bücher, in die sie ihren Namen und das Datum geschrieben hat. Aber es muss doch noch etwas geben. Das kann doch
unmöglich alles sein!
Und dann, nach dem Mittagessen, finde ich tatsächlich etwas: eine alte, zerlesene Ausgabe des Romans
Woman on the Edge of Time
von Marge Piercy. Da hat meine Mutter etwas hineingeschrieben, und zwar nicht nur ihren Namen.
Bitte an Beatrice Bailey zurückgeben
steht in ihrer verschnörkelten Handschrift auf der Titelseite. So weit, so gut. Das steht in vielen Büchern, wenn auch meist
in etwas kindlicherer Schrift und mit ihrem Mädchennamen, dem Namen, den auch ich trage: Butler. Doch innen im Buch finde
ich noch mehr. Sie hat etwas für mich an die Seitenränder geschrieben!
Meine allerliebste Alice, gerade habe ich dieses Buch fertig gelesen und frage mich, was ich Dir dazu sagen soll. Womöglich
hast Du mich ja längst vergessen. Wie alt Du wohl jetzt bist? Wirst Du dieses Buch überhaupt jemals bekommen? Ich habe Deinen
Großvater zwar gebeten, es in die Kiste zu den anderen Büchern zu legen, die ich für Dich aufgehoben habe, aber manchmal versprechen
Menschen einem etwas und vergessen es dann doch. Dieses Buch ist mir sehr wichtig. Es erklärt … so vieles. Gib bitte gut darauf acht. Und Du sollst wissen, Alice, wie sehr ich Dich liebe, wie sehr ich Dich immer lieben
werde. Diese Liebe stirbt niemals. Auch wenn ich
jetzt sterben muss, so viel früher, als ich gehofft hätte, werde ich doch niemals ganz fort sein. Eigentlich müsste ich ja
jetzt etwas besonders Tiefgründiges sagen, aber die Ränder dieses Buches sind viel zu schmal, um all meine Gedanken über das
Leben zu fassen, und so sage ich Dir nur eines: DU SOLLST DIE WELT VERÄNDERN. Es ist völlig egal, wie groß oder klein die
Veränderung ist; sorg einfach nur dafür, dass sie die Welt ein bisschen besser macht. Ich schaue mich um und sehe überall
nur Atomwaffen, Tierversuche, Grausamkeit, Armut und Hunger. Ob das wohl anders ist, wenn Du einmal erwachsen bist? Ich hoffe
es so sehr. Ich warte im Jenseits auf Deinen Bericht. In Liebe, Mummy
.
Ich schlucke, Tränen treten mir in die Augen. Sie wartet irgendwo auf mich! Sie liebt mich! Und plötzlich weiß ich, dass die
Toten genau auf diese Weise zu uns sprechen. So halten sie Kontakt mit uns. Meine Mutter ist für mich durch die Zeit gereist.
Und mein Ich ist plötzlich wie erweitert. Ich bin nicht mehr nur Alice Butler, das schiffbrüchige Waisenkind. Ich habe eine
Mutter, die mich liebt. Als ich wieder aufhören kann zu weinen, fange ich an, das Buch zu lesen. Es ist ein richtiges Erwachsenenbuch,
aber ich werde jedes Wort in mich aufnehmen. Und ich werde es verstehen. Das ist meine Pflicht. Ich weiß zwar noch nicht,
wie ich die Welt verändern soll, doch als ich später aus dem Fenster in den
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