PopCo
warte darauf, dass er herüberschaut
und mich sieht, doch er tut nichts dergleichen. «Danke», sagt er in merkwürdigem Ton zu Esther, dann ist er auch schon verschwunden.
«Wichser», brummt Esther, als ich bei ihr an der Tür bin.
Das Zimmer in der Scheune ist leer, als ich hereinkomme, doch der Geruch nach fremdem Parfum zeigt mir, dass noch vor kurzem
jemand hier gewesen sein muss. Eigentlich hätteich mir sogar gewünscht, jemanden anzutreffen, den ich nach der Uhrzeit fragen kann. Es ist bestimmt schon fast sieben, und
ich sollte längst in der Cafeteria beim Abendessen sein, aber ich bin mir einfach nicht sicher. Vor etwa einer Viertelstunde
habe ich mich von Esther verabschiedet und mich auf die Suche nach Dan gemacht, doch er war weder im Großen Saal noch oben
auf dem Hügel oder bei der Sporthalle, und ich kenne mich nicht gut genug aus, um zu wissen, wo ich sonst nach ihm suchen
sollte. Vermutlich ist er in seinem Zimmer, aber ich weiß nicht, wo das ist.
Mein
Hide It!
-Täschchen hängt immer noch sicher unter dem Nachtschrank. Es liegt schwer in der Hand, als ich es abziehe, um den Inhalt
auf das Bett zu leeren. Irgendwo da drin muss auch eine kleine Uhr sein, ein Zeitmesser ohne Armband. Ja, da ist sie: Es ist
fünf vor sieben. Die Uhr geht fünf Minuten vor, mir bleiben also noch zehn Minuten bis zum Abendessen. Ob ich mich umziehen
muss? Nein. Mehr als zweimal am Tag ziehe ich mich aus Prinzip nicht um, selbst wenn ich nachher noch zu Mac muss. Versuchsweise
stelle ich mir vor, wie es sein wird, Esther wiederzusehen. Das komische Gefühl im Magen bleibt aus. Ein gutes Zeichen. Manchmal
kommt man sich ja hinterher ein bisschen konfus und blöd vor, wenn man sich gerade mit jemandem angefreundet hat. Das ist
fast noch schlimmer als schlechter Sex.
Mitunter ist so eine neue Freundschaft auch wie ein Kindergeburtstag: ein riesengroßer Tisch voll Kuchen, Bonbons, Chips und
einzeln verpackten Schokoriegeln. Viel zu viel Zucker auf einmal. Man stopft sich voll, aber eigentlich ist das alles zu viel,
und hinterher will man für längere Zeit nicht mal mehr an Süßigkeiten denken. Manche neuen Freundschaften – diejenigen, die
es bis in die Fokusgruppe schaffen, dann aber nicht auf den Markt kommen – sind auch wie ungestimmte Streichinstrumente: Man
sucht sorgsam die richtigen Saiten für daseigene Lieblingslied, aber die Melodie klingt ganz falsch. Obwohl man alles genauso macht wie sonst, reagiert das Ding total
verkehrt und spielt eine unbekannte Disharmonie, von der man nur Kopfschmerzen kriegt. Die Lieblingsanekdote (vielleicht sogar
die einzige, die man kennt) wird mit einem «Ja, und?» oder einem dissonanten, höflichen Nicken abgeschmettert. Mit Esther
gab es solche Situationen bisher nicht. Zumindest nicht für mich. Es kann immer noch sein, dass es für sie anders war. Freundschaften
zu schließen ist keine leichte Sache. Selbst wenn für einen selbst alles stimmt, wenn man sich auf dem Geburtstagsfest amüsiert
und die Melodie gut klingt, stellt sich am Ende vielleicht heraus, dass es für den anderen die dissonante Überdosis Zucker
war. So was passiert ständig.
Ich gähne und überlege, wie schnell ich nach dem Termin mit Mac wohl ins Bett kommen kann. Womöglich sind noch weitere Aktionen
geplant? Vorhin habe ich etwas von einem Spieleabend nach dem Essen gehört. Vielleicht weckt mich das ja wieder auf, so etwas
mag ich nämlich eigentlich. Aber vielleicht werden wir ja auch gefeuert und müssen gleich nach der Besprechung nach Hause
fahren.
Aufstehen, Alice. Nicht einschlafen
. Ich zähle bis fünf. Ich werde bis fünf zählen und dann aufstehen. Da fällt mir plötzlich auf, dass an den Sachen vor mir
auf dem Bett etwas nicht stimmt. Es fehlt nichts – im Gegenteil, es ist etwas zu viel. Da war etwas in meinem geheimen Täschchen,
das ich nicht hineingesteckt habe: ein zusammengefalteter Brief. Bei der Vorstellung, dass jemand hier war und mein Versteck
gefunden hat, verspüre ich ein unangenehmes Kribbeln. Ich falte das Blatt auseinander. Es ist ein Empfehlungszettel der Firma
PopCo mit einer Reihe von Buchstaben darauf:
Für ein ungeübtes Auge sähe das vermutlich wie eine Art Strichcode aus oder wie das völlig verdrehte Aktenzeichen eines offiziellen
Dokuments, doch ich erkenne gleich, dass es sich um etwas ganz anderes handelt. Es ist ein Geheimtext, den ich offensichtlich
knacken soll.
Wieder bin ich
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