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PopCo

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Titel: PopCo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Abendessen kochen ganz schön schwierig.
    Erst mal komme ich schon gar nicht an den Grill, außer wenn ich mich auf einen Stuhl stelle. Bevor mein Vater gegangen ist,
     durfte ich das nicht. Darf ich es jetzt? Nein. Wenn ich jetzt abrutsche und hinfalle, ist ja keiner da, der sich um mich kümmern
     oder zur Telefonzelle laufen kann, um einen Krankenwagen zu rufen. Ich muss jetzt viel mehr aufpassen, so wie ich auch immer
     aufpassen muss, dass ich nicht anfange zu weinen. Die Sachen, die man auf dem Grill machen kann, Würstchen zum Beispiel, sind
     sowieso viel zu schwierig, außerdem habe ich kein Geld mehr für Würstchen. Heute mache ich den dritten Tag hintereinander
     Porridge, mit Leitungswasser und Haferflocken aus der großen Packung im Schrank. Ich habe keinem erzählt, was passiert ist.
     Meiner besten Freundin Yvonne nicht (die redet sowieso nicht mehr mit mir) und auch nicht meiner Lehrerin oder anderen Erwachsenen.
     Ich kann für mich selber sorgen.
    Vor zehn Tagen bin ich aus der Schule gekommen, und mein Vater war einfach weg. Er hatte mir einen Zettel geschrieben:
Tut mir leid, ich musste weg. Ruf Deine Großeltern an, sie werden sich um Dich kümmern.
Warum habe ich sie nicht angerufen? Weiß ich auch nicht. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass ich so böse auf meinen
     Vater bin und seinen blöden Anweisungen einfach nicht folgen mag. Es weiß doch schließlich jeder, dass man seine neunjährige
     Tochter nicht einfach so im Stich lässt. Aber vielleicht ist da auch noch etwas anderes: ein dumpfes Gefühl, dass ich nur
     durchhalten und dieses Unwetter des Unwirklichenüberstehen muss, damit sich die gewaltigen Wellen der Einsamkeit, Angst und Verunsicherung legen und alles wieder so normal
     wird wie früher. Dad wird von dort zurückkommen, wo er hingegangen ist, er wird mich auf die Stirn küssen und sich bei mir
     entschuldigen. Obwohl ich so böse auf ihn bin, finde ich doch grundsätzlich, dass ich ihm diese Chance geben muss. Wenn ich
     meine Großeltern anrufe, ist das so, als würde ich ihn verpetzen; die drehen doch völlig durch, wenn sie hören, dass er mich
     einfach allein gelassen hat. Sie schimpfen schon länger darüber, dass ich ein «Schlüsselkind» bin, wie sie sagen, was anscheinend
     irgendwie damit zusammenhängt, dass mein Vater nie zu Hause war, wenn ich aus der Schule kam, zumindest nicht, als er noch
     gearbeitet hat. Das hier werden sie wahrscheinlich noch viel, viel schlimmer finden.
    Ich verwende viele Segelausdrücke und denke viel in Meerbildern, weil überall im Haus Schifffahrtsbücher herumliegen. Die
     müssen sicher auch bald in die Bücherei zurück. Wahrscheinlich muss Dad dann zu allem Überfluss noch Mahngebühren zahlen.
     Aber ich glaube, das interessiert ihn nicht. Vielleicht kann ich sie ja für ihn zurückbringen, wobei ich gar nicht weiß, ob
     ich sie alle auf einmal tragen kann. Außerdem sind sie spannend. Eins habe ich schon gelesen; es heißt
… und kämpften um ihr Leben
und ist die wahre Geschichte von einer Familie, die zwei Monate lang in einem kleinen Segelboot über den Pazifik irrt. Das
     Buch hilft, dass ich mich besser fühle. Wenn ich beim Lesen eine Orange esse, mache ich kleine Stückchen daraus und teile
     sie mir ein, als wären das meine letzten Lebensmittelvorräte, und ich male mir aus, dass ich dieses Abenteuer mit meiner Familie
     durchlebe, da draußen auf dem offenen Meer. Ich male mir eine große Familie aus, mit viel Gelächter und aufregenden Geschichten,
     eine Familie, die zusammen sogar einen Schiffbruch überstehen kann.
    Ich wünschte, ich hätte ein Haustier. Keine Katze und keinen Hund – das wäre ja viel zu viel verlangt. Aber vielleicht eine
     Maus, ein Meerschweinchen oder einen Fisch. Dem Tier würde ich dann einen schönen Namen geben, es füttern und mich immer darum
     kümmern. Ich würde ihm kleine Kunststücke beibringen und ihm alle meine Geheimnisse erzählen. Dad sagt immer, dass so ein
     Haustier mir ganz schnell langweilig würde, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Einmal hat er daraufhin gesagt, ich könnte
     doch gar nicht wissen, wie es mir in der Zukunft geht, das künftige Selbst wäre immer eine Art Fremdling voller Überraschungen,
     mit Gedanken und Gefühlen, die man nicht wiedererkennt. Als Mum noch lebte, hat er nie solche Sachen gesagt, aber jetzt sagt
     er sie ständig und bekommt dabei so einen vernebelten, philosophischen Ausdruck in den Augen.
Du kannst niemals wissen,

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