PopCo
aussieht, als würden sie auf den Wellen schwimmen. Am
Fußende habe ich den Besen zwischen Matratze und Bettgestell gesteckt und ein Laken daran festgemacht, so wie das Segel auf
dem Bild in meinem Buch. Die Kerben am Bootsrand sagen mir, wie viele Tage ich schon allein auf See verbracht habe. Bisher
sind es zehn. Ich habe auch ein paar Bücher mit in meinem Boot:
… und kämpften
um ihr Leben
natürlich, außerdem ein Wörterbuch für die komplizierten Wörter (ich habe zwar ein Lesealter von etwa sechzehn, aber dieses
Buch ist für Erwachsene), ein Buch mit mathematischen Rätseln, das mein Großvater mir zu Weihnachten geschenkt hat, und zwei
andere Schifffahrtsbücher, die ich noch im Haus gefunden habe. Ich kann schon drei Seemannsknoten – den einfachen Palstek,
den Kreuzknoten und den Webeleinenstek –, und ich denke auch, dass ich mein Segel korrekt angeschlagen habe, obwohl ich mir da nicht ganz sicher bin. Ich glaube,
morgen bleibe ich einfach auf meinem Boot und gehe nicht in die Schule. Yvonne redet immer noch nicht mit mir, und ich will
mein Buch zu Ende lesen. In Mathe nehmen wir schriftliches Teilen durch, das kann ich schon, und in Englisch machen wir die
Jahreszeiten, das finde ich langweilig. Verpassen tue ich also nichts.
***
Am Montagmorgen ist PopCo Towers, wie wir das Anwesen getauft haben, erneut in Nebelschwaden gehüllt. Der Sonntag ist mehr
oder weniger an mir vorbeigerauscht. Nachdem ich mir bis fünf Uhr morgens Gedanken über die Geheimbotschaft gemacht hatte,
schlief ich anschließend fast bis mittags. Diese durchwachten Nächte werden langsam zur Gewohnheit, das muss ich ein bisschen
im Auge behalten. Ist das womöglich mein natürlicher Biorhythmus? Schwer zu sagen. Die letzten beiden Wochen, die ich mit
den Recherchen für mein KidScout(oder KidTracker-) Set zu Hause verbracht habe, waren vor allem deswegen so erholsam, weil
ich die Nächte voll ausnutzen konnte. Meist war ich um drei Uhr morgens noch wach und las beim Schein meiner Schreibtischlampe.
Und zwei Nächte lang habe ich sogar in meinem kleinen Garten gezeltet und mir Notizen für das Kapitel über «Tiere, die man
beim Zeltenbeobachten kann» gemacht. Wegen der «Gartentauglichkeit», die beim letzten Produktmeeting vereinbart wurde, habe ich natürlich
sehr darauf geachtet, dass die beobachteten Tiere ganz alltägliche Geschöpfe sind, die man auch in einem ganz normalen Vorstadtgarten
antreffen kann. In meinem eigenen Garten habe ich eine Katze gesichtet (Atari), einen Igel, zwei Frösche, eine Kröte, etliche
Nackt- und Gehäuseschnecken sowie eine tote Maus. Ich habe eine Eule rufen, einen Fuchs (vielleicht auch einen Einbrecher?)
im Gebüsch rascheln und das Kaninchen von nebenan durch seinen Stall hoppeln hören.
Als ich gestern dann endlich auf den Beinen war, war es schon viel zu spät, um noch etwas Sinnvolles zu unternehmen, also
genehmigte ich mir ein rasches, einsames Mittagessen in der Cafeteria und spazierte dann durch die Parkanlagen, dachte weiter
über meine Überlebenstrainingsrecherchen nach und versuchte, Blumen und Sträucher zu bestimmen. Dan traf ich erst abends wieder,
wir hockten aber einfach nur herum und spielten Karten, bis es Zeit zum Schlafengehen war. Ich gab mir alle Mühe, nicht an
die geheimnisvolle Botschaft zu denken, die mich in einen unguten Zustand gespannter Erwartung versetzt. Ob der Verfasser
noch einmal versuchen wird, mich zu kontaktieren? Vermutlich. «Ich wusste, dass du das lesen kannst» – das klingt doch sehr
nach der Eröffnung einer längeren Korrespondenz. Mein Verstand sagt mir, dass jeder, der Zugang zu meinem KidCracker-Set hat,
auch eine solche Botschaft verfassen kann. Und es ist ein logischer Schritt, sie dann auch an mich zu schicken. Klar kann
ich sie entschlüsseln; immerhin habe ich das Set ja entwickelt. Doch ein paranoider Teil von mir fragt immer wieder:
Aber was, wenn …?
Was, wenn es jetzt wieder losgeht, nach all den Jahren? Weiß noch jemand von dem Medaillon? Genau das haben früher doch immer
alle befürchtet. Aber nein. Das ist Unsinn.
Den ganzen Sonntag über gab es Programm, aber ich habean keiner der Veranstaltungen teilgenommen. Und was Macs «Abschiedsrede» betraf – nun, von Abschied konnte ja keine Rede sein.
Dan nannte mich die «Drückebergerin vom Dienst», als wir uns abends wiedertrafen, und er hat sogar recht damit: Ich drücke
mich, wo ich kann. Ich weiß
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