Poppenspael
Häuserschatten am Rande der Nacht
vorbei. Swensen spürt, dass er unmerklich den Fuß vom
Gas genommen hat. Wahrscheinlich will er die Zeit bis zum Ziel ein
wenig in die Länge ziehen. Außerhalb seines Körpers
hört er die imaginäre Stimme seines Meisters:
»Der
größte Schwindel ist der Eindruck von der Festigkeit
eures Ichs. Diese Besessenheit ist aberwitzig, ein wahrhaft
kosmischer Witz. Es ist diese irrige Wahrnehmung eines
unabhängig bestehenden Selbst, das getrennt von anderen erlebt
wird. Fühlt ihr euch von etwas angezogen, entsteht ein
Gefühl von gut oder attraktiv. Nehmt ihr etwas als schlecht
wahr, entstehen sofort negative Emotionen von Aggression oder
Abneigung. Es ist aber alles nur der Geist, der diese Anziehung und
Abneigung erschafft, als seien sie reale, solide Wirklichkeiten.
Diese Verblendung verursacht die grundlegende Trägheit des
Geistes, sie ist die Quelle all eurer Leiden.«
Meister Rhinto
Rinpoche gab ihm diese Belehrung zu einer Zeit, als er nach vier
Jahren Lehrzeit den Entschluss gefasst hatte, den Tempel wieder zu
verlassen. Sein Erspartes ging langsam zur Neige, und er schlug
sich mit Fantasien über seine weitere Zukunft herum. Sein
abgebrochenes Studium der Philosophie fortzusetzen, wurde als
Erstes verworfen. Gerade die abstrakte Welt der Denker hatte ihn in
dieses tibetische Zentrum in der Schweiz getrieben, hier wollte er
endlich wirkliche Erkenntnis erlangen. Auch wenn es im
alltäglichen Ablauf zwischen Arbeit, Meditation, Dokusan und
Belehrung oft nicht so aussah, hatte der Aufenthalt sein
Bewusstsein von sich und der Welt nachhaltig verändert. Er
konnte sich einen Beruf, der, abgespalten von den Menschen, in
einer Studierstube stattfinden sollte, womöglich einsam hinter
einem Computer, überhaupt nicht mehr vorstellen. Nach einiger
Zeit hatten die Grübeleien seine gesamte Denkfähigkeit
außer Kraft gesetzt, sein Kopf wurde plötzlich leer,
ohne jeglichen Gedanken – ein Zustand, von dem der Meister
öfter gesprochen hatte. Im nächsten Moment waren alte
Bilder von der großen Springer-Demonstration gekommen, die
1968, kurz nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke, durch Hamburg
gezogen war. Am Rande dieser Demo hatte sich eine kuriose Szene
ereignet, bei der ein vereinzelter Polizist bei der Verfolgung von
Demonstranten in eine Seitenstraße geraten war und hier nun
plötzlich einer Menge gegenüberstand, die ihm mit dem
Sprechgesang »Enteignet Axel Springer« empfing. Swensen
hatte damals direkt in die entsetzten Augen des jugendlichen
Beamten geblickt, der in Panik auf der Hacke kehrtgemacht hatte und
mit einem dämonischen Gelächter im Nacken
davongestürmt war. Diese ängstlichen Augen waren seitdem
in seinem Gedächtnis eingebrannt. Der Mann schien
annähernd in seinem Alter gewesen zu sein, und er hatte sich
danach öfter gefragt: Was unterscheidet ihn und mich
eigentlich?
»Die
Besessenheit, euer Ich zu bewahren, ist aberwitzig, ein wahrhaft
kosmischer Witz.«
Im Tempel hatte
Swensen begriffen, dass sein Bild von der Polizei mit Vorurteilen
gespickt war. Er lernte, die Wirklichkeit aus einem anderen
Blickwinkel zu betrachten, und musste sich eingestehen, dass es nur
sein Geist war, der seiner Sichtweise eine Bedeutung
gab.
»Mieser
Bulle« war schnell dahergesagt, blieb aber trotzdem nur eine
der unendlichen Kopfgeburten. Raubt jemand dein Geld, bist du der
Erste, der genau bei diesen Bullen nach Gerechtigkeit
ruft.
Eins wurde ihm im
Laufe seiner Abwägungen immer deutlicher, er wollte agieren,
die Verbesserung der Welt selbst in die Hand nehmen. Er wollte dem
Buddha nacheifern, die unangenehmen Seiten des Lebens nicht aus
seinem Blickfeld verbannen, sich Leiden, Schmerz und Tod stellen
und sie nicht nur hinter verschlossenen Türen stattfinden
lassen. Dann traf er eine Entscheidung. Er wollte bei der
Kriminalpolizei anfangen, Verbrechen bekämpfen, das ICH
konkret für die Menschen einsetzen. Eine unbeschreibliche
Euphorie hatte ihn danach erfasst, und sein Vorhaben war ihm
plötzlich sehr buddhistisch vorgekommen.
Der silbergraue Polo
lässt die kleine Ortschaft Padelackhallig hinter sich. Neben
der Bundesstraße werden die flachen Wiesen vom
Scheinwerferlicht aufgeschreckt und flüchten wieder in die
Dunkelheit. Swensen bremst den Dienstwagen ab, als der Osterkoogweg
den Siedlungsweg kreuzt. Er blickt nach rechts und biegt
ab.
»Wieso
fährst du eigentlich immer langsamer?«, fragt Silvia
Haman mit geschlossenen Augen. »Hat das einen
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