Populaermusik Aus Vittula
noch eine Ahnung von etwas Großem, Unerhörtem zurückgeblieben. Vielleicht von Liebe.
Nach der Beerdigung wurden alle in die Rauchstube zu Kaffee und Schnittchen gebeten. Die Stimmung war plötzlich viel leichter, fast ausgelassen. Großmutter war bei Jesus. Man konnte aufatmen.
Allein Isak blieb bei seiner mürrischen Steifheit. Er lief in seinem alten Predigeranzug herum, und obwohl es schon lange her war, dass er sich verhärtet hatte, hatte man doch ein kleines Gotteswort von ihm an der Bahre erwartet. Ein Zeugnis von dem verlorenen Sohn. Vielleicht hätte er sogar wieder bekehrt werden können, es waren schon größere Wunder als dieses bei einem Elternbegräbnis geschehen, bei dem einem die Vergänglichkeit und Sterblichkeit einer Generation unter die Haut ging. Gottes Zeigefinger, der wie ein Pfeil in das verhärtete Herz stieß und das Eis brach, Bewegungen des Heiligen Geistes, Sündenbekenntnisse, die den Reumütigen entleeren, als wenn man einen bis zum Rand gefüllten Topf auskippt und dann die Vergebung, die ihn zu einem Himmlischen Trinkbecher machte, in den die Gnade hineinfließen und tropfen konnte. Aber Isak hatte am Sarg nur etwas gemurmelt, ganz leise für sich. Nicht einmal die erste Bank hatte hören können, was er gesagt hatte.
Am Kindertisch wurden Saft und süße Brötchen serviert. Wir Kinder mussten schichtweise essen, weil wir so viele waren. Niila sah aus, als sei es ihm in seinem bis oben zugeknöpften
Sonntagshemd sehr unbequem. Während die Männer und Frauen sitzen blieben und wie schwarzgekleidete Krähen miteinander krächzten, schlichen wir uns hinaus. Die Jungs aus Missouri kamen hinterher. Es waren Zwillinge von acht Jahren, beide trugen einen Anzug mit Schlips. Sie redeten miteinander Englisch, während Niila und ich Tornedalfinnisch sprachen, ab und zu mussten sie wegen der Zeitumstellung gähnen, und es überlief sie ein Schauder. Beide hatten einen Stoppelhaarschnitt wie kleine Marinesoldaten und waren rotblond wie ihr irischamerikanischer Vater. Man merkte, dass diese Umpflanzung hierher in die Alte Welt zu den Wurzeln ihrer Mutter sie verwirrte. Es war Mai und Schneeschmelze, das Eis lag noch auf dem Fluss. Die Birken standen noch kahl da, das Vorjahresgras lag platt und gelb auf der Wiese, von der gerade erst der Schnee schmolz. Sie trampelten mit ihren Lackschuhen herum und hielten unsicher nach irgendwelchen arktischen Raubtieren Ausschau.
Neugierig begannen wir mit ihnen zu reden. Sie erzählten in einem rollenden Schwedisch-Amerikanisch, dass sie auf dem Weg zu uns in London zwischengelandet seien und die Beatles gesehen hätten. Ich forderte sie auf, lieber nicht weiter zu lügen. Aber beide versicherten uns hartnäckig, dass die Beatles in einem langen Cadillac ohne Dach vor ihrem Hotel vorbeigefahren seien, während die Mädchen am Straßenrand standen und schrien. Das Ganze war von einem Lastwagen gefilmt worden, der direkt dahinter fuhr.
Die Zwillinge hatten auch etwas gekauft. Aus einer Papiertüte holten sie eine Single mit englischem Preisschild heraus.
»Beatles«, buchstabierte ich langsam. »Roskn roll musis.«
»Rock ’n’ roll music«, korrigierten sie höhnisch meine Aussprache. Dann reichten sie Niila die Scheibe.
»It’s apresent. Für unseren cousin.«
Niila nahm die Scheibe mit beiden Händen. Fasziniert zog er die runde Vinylscheibe aus der Hülle und starrte die haarfeinen Rillen an. Er hielt sie so vorsichtig, als hätte er Angst, sie zu zerbrechen, wie eine millimeterdünne Eisscheibe aus einem gefrorenen Wassereimer. Obwohl die Scheibe doch schwarz war. Wie die Sünde.
»Kiitos«, murmelte er. »Danke. Fänkjoo.«
Er hielt immer noch die Scheibe und roch an dem Plastik, hob sie dann hoch in die Frühlingssonne, dass die Rille glitzerte. Die Zwillinge warfen sich Blicke zu und lachten. Heimlich waren sie bereits dabei, die Geschichte von der Begegnung mit den Ureinwohnern zu formulieren, wie sie sie ihren Freunden in Missouri servieren würden, wenn sie beim Hamburger saßen und ihre Cola schlürften.
Niila knöpfte ein paar Hemdenknöpfe auf und schob die Platte unter seine Kleidung, auf die Haut. Eine Weile zögerte er. Dann winkte er den Zwillingen, dass sie mit ihm zur Landstraße kommen sollten. Verwundert ging ich zwischen den letzten schmutzigen Schneewällen mit.
Am Graben blieben wir stehen. Durch die Bankette lief eine Rolle grauer Betonröhren. Wenn wir uns runterbeugten, konnten wir die weiße Kreisöffnung auf der
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