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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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verloren.«
    Ich sah, wie es in Niila zuckte. Aber gleichzeitig war er ganz starr, abweisend, krampfhaft um seine Würde bemüht. Sein Kopf vibrierte ein wenig, als spanne er die Halsmuskeln bis zum Äußersten an. Je ängstlicher er wurde, umso mehr verschwand meine eigene Scheu, er übernahm sie gewissermaßen von mir. Eifrig drückte ich ihm das Käseblatt in die Hand.
    »Such dir eine aus, Niila! Eine aus der Zeitschrift, welche willst du haben?«
    Da war es, als ginge ihm die Luft aus. Er sank auf einen Stuhl nieder und seufzte laut, beugte sich vor, als wäre er krank geworden, ein nicht allzu ungewöhnliches Verhalten unter schüchternen Tornedalbewohnern, wenn sie sich unter Druck gesetzt fühlen, etwas sagen zu müssen. Er räusperte sich und schluckte, damit die Stimme überhaupt Platz in seinem Mund fand.
    »Großmutter ...«, sagte er und verstummte.
    »Ja, was ist mit ihr?«, versuchte ich ihm zu helfen.
    »Sie ... sie ist tot ...«
    »Ja klar, das weiß ich, das ist sie ja schon eine ganze Weile.«
    »Aber sie ist zurückgekommen!«
    Und nachdem der Korken herausgeflogen war, kam auch der Rest, stoßweise, rasselnd. Mit wachsendem Schauder hörte ich zu, wie Niila mir sein Herz ausschüttete.
    Die Großmutter hatte angefangen zu spuken. Gut drei Jahre nach ihrem Dahinscheiden war sie in ihr altes Haus zurückgekehrt. Obwohl sie unter laestadianischen Ehrenbezeugungen begraben worden war, hatte sie keinen Frieden gefunden.
    Als er sie das erste Mal gesehen hatte, war sie nur ein verschwommener Fleck gewesen, der an die wandernden Lichtpunkte erinnerte, die man am Rande des Blickfelds sehen kann. Bald vermochte er einen leichten Windhauch zu spüren, als würde ihn jemand anhauchen. Mit der Zeit hatte sie immer festere Formen angenommen, war angeschwollen und hatte dann auch noch angefangen, Laute von sich zu geben. Stück für Stück eroberte sie sich ihren Platz in der Familie zurück. Sie humpelte mit steifen Hüften die Dachtreppe hinunter, breit und schwer. Mehrere Nächte hatte sie am Küchentisch gesessen und gegessen, Kartoffeln und Karotten in der übrig gebliebenen Fleischbrühe zu einer grauen Milchsuppe gemust, die sie laut vernehmlich in sich schlürfte. Sie roch ungemein schlecht. Süßlicher Alt-Frauen-Schweiß, gemischt mit Odeurs aus einer muffigen, unterirdischen Welt.
    Das Merkwürdige war, dass allein Niila sie bemerkte. Einmal hatte die Alte mitten in der Küche gestanden und Fliegen gefangen, um sie anschließend mit ihren gelben Fingerspitzen in dem Würstcheneintopf mitten auf dem Tisch zu zerdrücken. Alle außer Niila aßen mit gutem Appetit weiter.
    Niila teilte sich das Zimmer mit seinem großen Bruder Johan im Obergeschoss des Rauchstubenhauses. Der Bruder hatte Wachstumsschmerzen und deshalb ein gewaltiges Schlafbedürfnis, wie die Männer schlief er tief und fest und schnarchte, während Niila dagegen leicht aufwachte.
    Eines Nachts, vor gar nicht langer Zeit, war Niila mitten in einem ganz intensiven Traum gewesen. Ein äußerst beeindruckender Traum, wiederholte er leicht errötend, sodass ich begriff, worum es sich da handelte. Aber mitten im Genuss hatte ihn ein Warnsignal erreicht, und mit einem Ruck hatte er die Augen geöffnet.
    Dicht über ihn gebeugt stand seine Großmutter. Ihre Wangen waren vor Wut gerunzelt, ihr zahnloser Mund stand offen und stieß unhörbare Worte aus, während eine saure Flüssigkeit Niila ins Gesicht tropfte. Er schrie darauf so laut, das Johan aufhörte zu schnarchen und sich umdrehte. Aber da war das Gespenst bereits verschwunden.
    Und letzte Nacht war er wieder geweckt worden. Diesmal hatte die Alte ihm ihre Klauenhände um den Hals gelegt. Sie waren kalt wie Eisen gewesen. Sie hatte angefangen zuzudrücken, aber es hatte ihr die entscheidende Kraft gefehlt, voller Panik war es ihm gelungen, sich freizustrampeln. Bis zum Morgengrauen saß er eingeschlossen auf dem Klo, das Licht eingeschaltet, ein Küchenmesser zur Verteidigung in der Hand. Er hatte das Knacken des Riegels gehört und leuchtendes Gas unter der Türschwelle hervorwallen sehen, aber das war verschwunden, als er es mit heißem Wasser bespritzt hatte.
    Niila öffnete seinen Hemdkragen, und ich entdeckte einen blauroten Streifen auf seinem Hals, als hätte dort jemand ein Seil entlanggezogen. Es sah aus wie ein Frostschaden, eine sterbende Rinne in der Haut.
    Ich hatte Niila mit wachsendem Entsetzen zugehört. Als er fertig war, wollte ich etwas sagen, versuchen, ihn ein wenig

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