Populaermusik Aus Vittula
die Samendorfgemeinschaften durch Kolchosen ersetzt wurden - und es soll ja nichts Böses gegen Stalin gesagt werden, aber ein Anhänger der Rentierzucht war er nicht gerade. Das Gerippe fühlte seine letzte Stunde kommen, und da er die Pritsche mit Jussi teilte, wurde dieser sein Vertrauter. In einer Mischung aus dem Samisch der Kolahalbinsel, Finnisch und Russisch berichtete er murmelnd von geheimnisvollen Kräften und Geschehnissen. Von Geschwüren, die geheilt wurden, vom Wahnsinn, der wich, von Rentierherden, die ohne Verluste durch wolfsbesetzte Nächte gebracht wurden. Es gab Worte. Es gab Augen, die wie zwei Fühler durch die Luft brausten, während ihr Besitzer unter einem Rentierfell lag. Es gab Blut, das wieder zurück in die Wunde floss, bis nur noch eine weiße Spur zurückblieb. Es gab, kurz gesagt, eine Möglichkeit, von dort wegzukommen.
Während langer Eisnächte wies der Sami Jussi ein, wie er fliehen konnte und wie er auf diese Weise die uralten Weisheiten in eine unbekannte Zukunft hinüberretten würde, in der sie ganz gewiss gebraucht wurden.
»Wenn ich sterbe«, röchelte der Alte, »trägst du mich ins Schneetreiben hinaus. Warte, bis ich steifgefroren bin, das wird bestimmt schnell gehen, warte, bis ich steif und hart bin. Dann brich meinen linken kleinen Finger ab. In ihm habe ich alle Kraft gesammelt. Brich ihn ab und schlucke ihn hinunter, bevor die Wachen etwas bemerken.«
Kurz darauf starb der arme Kerl, so mager, dass er klapperte, als Jussi ihn schüttelte. Jussi folgte seinen Anweisungen und stellte den Toten in die Sibirische Gefriertruhe. Mit einem Schlag brach er den schmutzigen kleinen Finger am Gelenk ab, stopfte ihn sich schnell in den Mund und schluckte ihn im Ganzen hinunter. Und danach war er nicht mehr der Alte.
Jussi wartete bis zu einem Abend am Ende des Winters, Ende April. Der Zeitpunkt war gut gewählt, der Boden war fest und leicht begehbar. Während die Lagerwachen eines ihrer düsteren, sentimentalen Wodkafeste feierten, war Jussi auf den Abtritt gegangen. Dort verzauberte er sich in eine Frau. Sie trat hinaus. Da stand sie, schmutzig und zerlumpt, aber schön. Taktvoll klopfte sie bei den Wachen an. Mit sanfter Liebenswürdigkeit hetzte sie die Männer aufeinander, bis ihre Fäuste und Münder bluteten und der Fluchtweg frei war. Mit zwei trockenen Brotstücken und einem abgebrochenen Messerblatt begann sie ihren langen Marsch nach Finnland.
Am nächsten Morgen veranstalteten die Männer eine erbarmungslose Treibjagd. Aber als die Soldaten sie aufspürten, verwandelte sie den Geruch der Männer so, dass sie von ihren eigenen Hunden in Stücke gerissen wurden. Von einem der toten Männer schnitt sie sich einen reichhaltigen Fleischvorrat heraus, und mit ihren Skiern unter den Füßen brauchte sie weniger als zwei Monate, bevor sie unter dem Stacheldraht an der finnischen Grenze hindurchkriechen konnte. Sicherheitshalber wollte sie noch ganz Finnland durchqueren, durch die unendlichen Wälder, bis sie zum Torneälv kam. Und dort, am gegenüberliegenden Ufer, blieb sie. Im schwedischen Tornedal.
Endlich in Sicherheit versuchte Ryssi-Jussi sich wieder in einen Mann zurückzuverwandeln, aber das gelang ihm nicht so recht. Es war inzwischen zu viel Zeit verstrichen. Und deshalb trug er also weiterhin Kleider. Meistens ein langes, aus grober gewalkter Wolle, aber am Wochenende tauschte er es meist gegen ein besseres schwarzes aus. Außerdem trug er immer einen Schal über seinen langen weißen Haarsträhnen und während seiner Ruhephasen im Rauchstubenhaus außerdem eine selbstgenähte Schürze; aber nicht einmal der abgebrühteste Bewohner von Tornedal traute sich, darüber zu grinsen. Statt-dessen wich man seinem Blick aus und machte ihm den Weg frei, wenn Ryssi-Jussi angeradelt kam, vorgebeugt und kräftig von einer Seite zur anderen schaukelnd, mit stechendem Blick und flatterndem Kleid. Eine Hexe mit Bassstimme, Schultern wie ein Waldarbeiter, aber mit der ganzen Durchtriebenheit einer Frau.
Wir schlüpften an dem klaren Frühlingsabend aus dem Haus und eilten zu Niila. An der Scheunenecke stand das Transportmoped seines großen Bruders. Niila kuppelte in den Leerlauf und rollte es durch das gelbe Vorjahresgras zu dem Trampelpfad hin. Als wir außer Hörweite waren, trat Niila den Motor an. Blauweiße Abgase husteten heraus. Ich setzte mich auf der Ladefläche zurecht. Niila schaltete mit der Handkupplung in den ersten Gang und lenkte uns unbeholfen auf die
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