Populaermusik Aus Vittula
zu trösten, ihn vielleicht sogar aufmuntern. Aber ich konnte es nicht. Sein Gesicht war leer und hing herunter, es ähnelte dem eines alten Menschen.
»Das ist eine Nummer zu heftig«, murmelte ich.
Niilas Kopf zitterte noch stärker. Dann holte er die alte Beatlessingle hervor und gab sie mir. Ich sollte sie erben, gab er kurz bekannt, etwas anderes von Wert besaß er nicht.
Ich bat ihn, nicht so zu reden, spürte aber, dass ich von seiner Angst angesteckt worden war. Die Furcht kroch mir die Beine hoch, und ich stand schnell auf.
»Du kannst bei mir schlafen.«
»Schlafen?«, flüsterte er, als hätte das Wort keinerlei Bedeutung.
Ich erklärte, das sei die einzige Chance. Sobald sich alle ins Bett begeben hätten, solle Niila sich aus dem Fenster schleichen, die Feuerleiter hinunterklettern und die Nacht in meinem Zimmer verbringen. Dann könne er im Morgengrauen, wenn die Gefahr vorüber sei, zurückkehren. Irgendwelche Eltern bräuch-ten davon nicht unterrichtet zu werden, wir müssten es nur geschickt genug anstellen.
Anschließend sollten Spaten angeschafft werden, ein Grab auf dem Friedhof von Pajala ausgehoben und ein angespitzter Kiefernkeil mit aller Kraft durch ein verdrehtes Greisinnenherz getrieben werden.
Niila, der daheim keinen Fernseher hatte und dem deshalb die grundlegendste Allgemeinbildung fehlte, weigerte sich, den Vorschlag gutzuheißen. Auch ich musste die Schwierigkeiten einsehen, nicht zuletzt, weil wir im Augenblick viel zu helle Frühlingsnächte hatten.
Da blieb nur noch eine Möglichkeit. Niila und ich, wir wussten beide, dass es so weit kommen musste. Einer von uns würde es schließlich vorschlagen. Ich war es.
»Wir müssen zu Ryssi-Jussi gehen.«
Niila erbleichte. Schloss die Augen. Fasste sich an den Hals, als läge sein Kopf in einer Schlinge.
Ryssi-Jussi war einer der letzten richtigen Hausierer im Tor-nedalen, und er war eine der gefürchtetsten Persönlichkeiten des Ortes. Ein krähenähnlicher, vornübergeneigter alter Greis, verschrumpelt wie eine Setzkartoffel mit Wangen voller Leberflecken. Seine Nase war gebogen wie ein Schnabel, die Augenbrauen zusammengewachsen und die Lippen mädchenhaft groß, rot und immer feucht. Seine Laune war meistens schroff und höhnisch, er war nachtragend und rachsüchtig. Ein Mann, dem man aus dem Weg ging, wann immer es möglich war.
Diese Vogelscheuche strampelte auf einem Damenfahrrad auf langen Ausflügen zwischen den Walddörfern hin und her, einen Reisekoffer aus Pappe auf dem Gepäckträger. Er stapfte wie eine Amtsperson in die Küche und bedeckte den Küchentisch mit Schnürsenkeln, Reißverschlüssen, Haarwasser, Knöpfen, Stofftaschentüchern, Rasierklingen, Garnrollen und Rattenfallen. Aber ganz unten in seinem Koffer, in einem Extrafach, hatte er das, was ihn interessant, ja geradezu begehrt machte. Es waren kleine Dosen mit einem braunen, schmierigen Matsch, die auf Tornedalfinnisch nopat genannt wurden. Das Extrakt hatte die Eigenschaft, die Sexuallust bei den abgearbeitetsten Weibern zu wecken und die hoffnungslosesten alten Kerle zu heilen. Das Gerücht besagte, dass die Tropfen von einem besonderen Pilz stammten, den Ryssi-Jussi im nördlichen Finnland suchte und der laut Zeugenaussagen verschiedene Halluzinogene beinhaltete.
Jussi war kurz vor der Jahrhundertwende als uneheliches Kind in der damaligen russischen Provinz Finnland geboren worden. Seine Mutter, die Kuhmagd war, hatte ihn im Hass gegen die Obrigkeit und die Großbauern erzogen, die ihre Dienstmägde ohne Folgen vergewaltigen konnten, und als Jugendlicher war er 1918 auf Seiten der Roten in den Bürgerkrieg gezogen. Nach der Niederlage war es ihm wie vielen seiner Leidensgenossen gelungen, in das neu gegründete Arbeiterparadies Sowjetunion zu fliehen. Aber es dauerte nicht lange, bis Stalins Herrschaft begann, unter der jeder Ausländer als Spion angesehen wurde, und auch Jussi verhaftet und in ein sibirisches Arbeitslager geschickt wurde. Dort sammelten sich die finnischen und tornedalschen Kommunistenbrüder und versuchten einander einzureden, dass sie nur das Opfer eines schrecklichen Missverständnisses wären, das Väterchen Josef in seiner Weisheit in Kürze entdecken würde, und dass sie jeden Augenblick mit ihrer Freilassung unter feierlichen Entschuldigungen und Ehrenbezeugungen rechnen konnten.
Einer der Mitgefangenen war ein Sami von der Kolahalbinsel. Bereits bei seiner Festnahme war er vor Hunger vollkommen abgemagert gewesen, da
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