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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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sie sich einen Dreck. Drückten ihre Kugel nur ein bisschen platter, wenn es zur Stunde läutete.
    Einmal wurde einer der Tabakkauer ganz überraschend zum Lehrerpult beordert. Er sollte ein Referat halten, das er vollkommen vergessen hatte. Alle saßen erwartungsvoll da. Sobald er den Mund öffnete, würde er entlarvt und vom Lehrer bestraft werden, was immer spannend und interessant anzusehen war. Dem Jungen war bange, das konnten wir sehen. Er wurde ganz weiß im Gesicht und zitterte leicht. Dann begann er irgendwas zu murmeln. Die ganze Klasse starrte ihn mit großem Interesse an. Der Junge hielt seinen Mund fast geschlossen und wurde vom Lehrer ermahnt, doch lauter zu sprechen. Er gehorchte, hob aber gleichzeitig sein Heft vor den Mund.
    »Du hast doch keinen Snus im Mund?«, fragte der Lehrer.
    Ein Kopfschütteln.
    »Du weiß doch wohl, dass das verboten ist!«
    Ein kurzes Nicken.
    »Darf ich mal sehen?«
    Der Junge stand wie erstarrt da, während der Lehrer seine Lippe anhob. Das dauerte ein paar Sekunden. Dann durfte er überraschenderweise gehen und sich setzen. Kein Geschrei und Gezeter, keine Drohung hinsichtlich einer Eintragung ins Klassenbuch oder eines Gesprächs mit dem Rektor.
    Wir waren gleichzeitig enttäuscht und verblüfft. In der Pause scharte sich die ganze Klasse um den Jungen und wollte wissen, was passiert war. Er schaute ruhig in die Runde.
    »Ich habe den Snus runtergeschluckt«, erklärte er mit klarer Stimme.
    Von ihm wurde noch lange Zeit erzählt.
    Bereits in der Sechsten wurde Niilas intensives Verhältnis zu Mädchen deutlich. Das hatte nichts mit seinem Aussehen zu tun, denn er war nicht gerade eine Schönheit mit seiner finnischen Kartoffelnase, den hochstehenden Wangenknochen und Haaren, die immer fettig aussahen, wie oft er sie auch wusch. Sein Körper war schlaksiger als meiner, vielleicht sogar etwas linkisch, gespreizt in den Bewegungen. Aber abstoßend war er nicht. Im Gegenteil, er hatte so eine Art fast intensive Ausstrahlung, eine Energie, die wie ein Tier in einem Käfig herumsauste und nach einem Ausgang suchte. Ein inneres Feuer ist vielleicht zu viel gesagt, eher etwas Warmes, Verletzliches. Das wuchs in ihm heran, und die Mädchen merkten, dass es dort einen Willen gab, ein Rückgrat, das sich zu einer Wurzel auswuchs.
    Nun ist es ja so mit den Mädchen, dass sie alle verschieden sind. Einige suchen das Stabile, sie wollen Jungs, die morgens früh aus den Federn kommen, Kerle, die ein Werkzeug oder eine Waffe anpacken können, die das Einfamilienhaus auf dem elterlichen Grundstück in Anttis oder Jarhois bauen und den Kartoffelacker mit dem Kultivator des Onkels bestellen. Dieser Sorte von Mustermädchen wurde es unwohl zu Mute, wenn sie Niila trafen. Ich habe das im Laufe der Zeit mehrere Male miterlebt. Er erschreckte sie mit seinem bettelnden, flackernden Blick oder - noch schlimmer - indem er überlegen tat. Ich versuchte ihm die elementarsten Dinge in der Kunst des Freiens beizubringen, nicht, weil ich selbst auf diesem Gebiet so große Kenntnisse hatte, aber so abgedreht wie er war ich nun doch wieder nicht. Die Grundregel lautete: die Mädchen auszusuchen, die einen mochten. Wie unglaublich das auch klang, es gab immer eine, die zumindest ein kleines bisschen interessiert war. Und auf die sollte man setzen. Niila machte es jedes Mal umgekehrt, er verliebte sich immer in Mädchen, die ihn verletzten. Mädchen, die ihn gar nicht sahen, die ihn vor verächtlich schnaubenden Freundinnen verhöhnten, Mädchen, die viel zu hübsch oder zu widerlich waren und die mit ihm spielten wie die Katze mit einem Vogeljungen. Es tat weh, das mit anzusehen. Die ganze Zeit gab es andere Mädchen im Hintergrund, zwar nicht mein Typ, aber trotzdem. Mädchen, die sich fallen lassen würden. Die Risiken einzugehen bereit waren, an den Fingerspitzen an einer Felswand hängen, in den Nachthimmel eintauchen würden. Künstlerische Mädchen, nachdenkliche Mädchen, die Gedichte in »Evas Kalender« schrieben, die über Gott und den Sadomasochismus nachdachten, Mädchen, die Erwachsenenbücher lasen, in der Küche saßen und zuhörten, wenn die Männer sich über Politik unterhielten. So eine wäre die Richtige für ihn gewesen. Eine frühreifes, handfestes Kommunistenmädchen zum Beispiel aus Aareavaara.
    Und jetzt kam ja die Sexualität ernsthaft ins Spiel. Diese einleitenden pubertären Jahre, in denen die dicken Freundschaften der Kindheit und die Hackordnung gegen eine neue

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