Populaermusik Aus Vittula
wagte einzuwenden, dass er ja wohl seine Scherze mit mir trieb, denn das war das erste Mal, dass ich davon etwas hörte.
Aber Vater erklärte, das hier wäre nur die bereinigte Version, den Rest würde er mir verraten, wenn ich in ein sexuell reiferes Alter gekommen wäre.
Ganz Tornedal schien sich vor meinen Augen zu verändern. Der Ort füllte sich mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiteten. Ein kräftiges, riesiges Spinnengewebe aus Hass, Anziehung, Angst und Erinnerung. Ein Netz, das vierdimensional war und seine klebrigen Fäden sowohl nach hinten als auch nach vorn in der Zeit ausdehnte, hinunter zu den Toten in der Erde und hinauf zu den noch Ungeborenen im Himmel, und das mich mit seinem Kraftfeld auch beeinflussen würde, ob ich es nun wollte oder nicht. Es war kräftig, es war schön, es erschreckte mich. Ich war ein Kind gewesen, und jetzt lehrte mein Vater mich zu sehen. Wurzeln, Kultur, weiß der Teufel, wie es genannt wurde, aber es war meins.
Als Letztes behandelte Vater die Schwächen unserer eigenen Familie. Es gab Trinker unter uns. Deshalb bot er mir jetzt noch nichts an, ich sollte lieber warten, bis ich volljährig war, bevor ich mich mit dem Alkoholgift vergnügte, da die Kunst des Rausches sehr verzwickt war und eine gewisse Reife erforderte. Und wenn ich meinte, es schmecke gut, sollte ich mich umso mehr in Acht nehmen. Der Alkohol hatte ja die Eigenschaft, Wärme und Freude im Körper zu verbreiten, während er für normale Personen gleichzeitig streng und schlecht schmeckte. Aber Vater hatte viele Alkoholiker sagen hören, dass sie den Alkoholgeschmack selbst gern mochten, und das war vermutlich der Grund, warum sie im Sumpf stecken blieben.
Außerdem wurden einige in unserer Familie gewalttätig, wenn sie tranken. Auch das war nur schwer vorauszusehen, bevor man es selbst versucht hatte, aber es war wichtig zu wissen, da schlechte Laune im Rausch oft der Grund für Strafen und schlecht heilende Schnittwunden war und die Leute ins Kittchen in Haparanda brachte. Meine ersten Räusche sollte ich deshalb sicherheitshalber in aller Einsamkeit erleben, eingeschlossen in mein Zimmer. Und wenn ich mich dann von einer unwiderstehlichen Lust zum Prügeln überwältigt fühlte, musste ich für alle Zeiten dem Alkohol in sozialen Zusammenhängen entsagen. Dann gab es nur noch die Möglichkeit, schon in jungen Jahren zu üben, nüchtern zu Tanzveranstaltungen zu gehen, was unglaublich schwer, aber doch nicht unmöglich war.
Danach fing er an, die Geisteskranken der Familie aufzuzählen. Einige hatte ich bereits kennen gelernt, einer saß in der Psychiatrie in Gällivare und ein anderer in Pitea. In Medizinersprache hieß es Schizophrenie, und es wurde angenommen, dass sie vererbt wurde. Die Krankheit brach aus, wenn man so um die achtzehn Jahre alt war, und hatte bestimmte Ursachen. Unglückliche Liebe war eine, und Vater warnte mich, mich vor anstrengenden Frauen mit Sexualangst in Acht zu nehmen. Er ermahnte mich außerdem, nie das schöne Geschlecht zu sehr zu nötigen, falls es nicht wollte, sondern lieber seinem eigenen Rezept zu folgen und eine aufgeschlossene Bauersfrau mit großem Hintern zu nehmen.
Die zweite Ursache für den Wahnsinn waren zu viele Grübeleien. Vater ermahnte mich streng, nicht zu viel zu denken, nur das Notwendigste, da Grübeleien eine schlechte Angewohnheit waren, die immer nur schlimmer wurde, je länger man dabei blieb. Als Gegenmittel konnte er harte körperliche Arbeit empfehlen; Schneeschippen, Holzhacken, Skilanglauf und Ähnliches, da die Gedanken sich gern einfanden, wenn man sich auf dem Sofa hingelümmelt hatte oder sich auf andere Art ausruhte. Frühes Aufstehen war auch empfehlenswert, besonders am Wochenende und bei Kater, weil sonst gerade dann die schlimmsten Gedanken sich in den Vordergrund schoben.
Besonders wichtig war es, nicht über die Religion nachzudenken. Gott und der Tod und der Sinn des Lebens, das waren gefährliche Themen für eine junge, verwundbare Seele, ein Dickicht, in dem man sich verirren konnte und das die schwerwiegendsten Geisteskrankheiten verursachte. Derartige Überlegungen konnten ruhig bis ins Alter verschoben werden, weil man dann abgehärtet und solider konstruiert war und nicht so vieles andere zu tun hatte. Der Konfirmationsunterricht sollte also als eine rein theoretische Veranstaltung angesehen werden, eine Anhäufung von Texten und Ritualen, die auswendig gelernt
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