Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Schließlich bricht sie das Studium ab und landet in Montana. Ein paar Jahre später geht auch er zum Studium nach Schottland – auf eine nicht annähernd so berühmte Universität in einer alten Stadt in den Bergen –, liest dieselbe Trilogie und hört sein ganzes Leben nicht mehr auf, daraus zu zitieren. Ihre Freunde und ihr Mann lassen nicht zu, dass sie ihn wiedersieht. Seine Freundinnen und Freunde betrachten sie mit Argwohn. Als Erwachsene bleiben sie auf Distanz. Sie schreiben sich oft. Er liest alle Bücher, die sie jemals gut fand. Er trägt ihre Ansichten und Interpretationen mit sich herum, als wären es seine eigenen, bis er schließlich irgendwann nach Schottland anfängt, sich selber Bücher auszusuchen und sich nach und nach eine eigene Meinung zu bilden. Das ist seine Reifeprüfung, und sie wissen es beide, sie lange vor ihm.
Doch ehe das geschieht, in dem Sommer, bevor er auf eine kleine Universität an der Ostküste Marylands geht, trinken sie eine Flasche sehr teuren Wein aus einer von zwei Kisten, die ihre Mutter für eine Freundin aufbewahrt, die in einem erbitterten Scheidungskrieg steckt. Erst Jahre nachdem sie beide Kisten niedergemacht haben, erfahren sie, dass es wirklich sündhaft teurer Wein war. Diese erste erlesene Flasche mit dem Greif auf dem Etikett trinken sie auf einem Berg, der sich der Indianer nennt. Sie wirft ihm Steinchen in die Shorts, bis klar ist, dass sie will, dass er die Hose auszieht. Sie zieht ihre auch aus, und er tut das, was er noch nie getan hat, sie aber schon. Für ihn ist es ein Wunder, dass es überhaupt geschieht; mit ihr ist es etwas Heiliges, ihnen Bestimmtes, aber es hat auch etwas von Inzest. Jahrelang wird er sich erinnern, dass es auf einer Wiese ihres Vaters passiert ist, eines Abends auf dem Weg zu einem Spiel. Doch sie einigen sich schließlich auf ihre Erinnerung, ihre Version.
Uptown
Was? Wie kann das sein?
Immer wieder sehe ich durch das Guckloch, und jedes Mal hoffe ich, dass die Wahnvorstellung, Noah stünde draußen, verschwindet und niemand auf dem Flur ist. Aber er ist jedes Mal wieder da. Und nicht nur er. Ein dicker Mann in einem schweren Trenchcoat steht neben ihm. Er telefoniert über ein Handy, und ich bin sicher, er ist von der Kripo oder der Drogenbekämpfung.
Komm, lass uns rein
, ruft Noah.
Kein Grund zur Beunruhigung, wir wollen dir helfen.
Jesse, der Mann auf dem Bett, erstarrt und fragt, was los ist. Ich sage ihm leise, er solle sich so schnell wie möglich anziehen, mein Freund sei draußen. Wie der Blitz fährt er in seine Kleider und steht innerhalb von Sekunden im Mantel da. Als er zur Tür will, bitte ich ihn zu warten. Nervös, mit aufgerissenen Augen zischt er:
Mach hin, ich bleib hier nicht
. So schnell ich kann, nehme ich den Aschenbecher vom Nachttisch und schütte das noch vorhandene Crack in eine Plastiktüte, die ich zusammen mit der letzten Pfeife in die Innentasche meiner im Schrank hängenden Jacke stecke. Mit einem Tuch wische ich flüchtig die Krümel und Reste vom Nachttisch, dann gucke ich, ob sonst noch etwas im Zimmer verrät, was hier gelaufen ist. Jesse geht zur Tür, als ich meine Jeans und meinen Pullover vom Boden aufraffe.
Jesse macht die Tür auf, ohne sich noch mal umzudrehen oder tschüs zu sagen, und schiebt sich an Noah und dem Mann im Trenchcoat vorbei. Als Noah eintritt, sitze ich auf dem Bett.
Gehen wir
, sagt er, ohne über den Typen, der gerade abgehauen ist, auch nur ein Wort zu verlieren.
Der Mann im Trenchcoat heißt John und sagt mir, er habe als ehemaliger Drogen-Cop seine Beziehungen spielen lassen und durch einen Anruf bei
der Behörde
herausgefunden, dass es eine Akte über mich gibt. Dann sagt Noah mir, dass die Polizei in One Fifth war, um mich zu befragen. Im Zuge einer Drogenrazzia sei mein Name aufgetaucht.
Mark?
, überlege ich.
Stephen?
Mein ohnehin schon heftiges Herzklopfen wird aus neu geschürter Angst zu einem Hämmern.
Sie wollen mich verhaften
, denke ich und blicke zu John, der genauso aussieht wie die Penneys.
Wie bist du denn an den geraten?
, frage ich Noah. Ich bin überzeugt, dass der Kerl Noah angelogen hat und nichts Gutes im Schilde führt. Noah sagt, ein Anwalt habe ihn empfohlen, und ich will wissen, welcher. Der Name sagt mir nichts, und je länger ich mir John ansehe, desto sicherer bin ich, dass er Noah nach allen Regeln der Kunst eingeseift hat, um mich in den Knast zu bringen.
Wir müssen los
, sagt John.
Sie müssen
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