Porträt eines Süchtigen als junger Mann
die er nicht versteht, liest die Bücher aber gern, weil sie ihr gefallen, und weint oft am Ende, weil er während der Lektüre woanders war, außerhalb der Zeit, wo ihn nichts an sich erinnert, und das Zurückkommen immer ein Schock, immer traurig ist. Sie spricht über die Bücher, entdeckt von Mal zu Mal mehr darin, versteht sie immer besser und beschreibt ihre Entdeckungen in Worten, die ihn begeistern. Er stiehlt ihr diese Wörter und benutzt sie selbst. Für sich allein, in den Schulaufsätzen, im Gespräch mit Erwachsenen und Lehrern. Mit jedem Wort spürt er, wie er sich ein Stück weit einem feineren Ich annähert, wie sich wieder eine Falte glättet. Ihre Worte haben Zauberkraft, wie die Kleidungsstücke, die Märchenfiguren aus ihrem Leben hinaustragen. Das Kleid, das ein kaminputzendes Balg in eine Prinzessin verwandelt, der Schuh, der sie zum Schloss zurückbringt, nachdem ihr alles geraubt worden ist. In der achten Klasse gebraucht Katherine das Wort
unzusammenhängend
, und bis heute lässt er das in Gespräche einfließen wie ein Meisterschwimmer, der öfter mal seine Medaillen erwähnt.
Sie finden heraus, dass ihre Familien aus ganz nah beieinanderliegenden Ortschaften in den Ort gezogen sind. Sie finden heraus, dass sie mit sieben Tagen Abstand im selben Krankenhaus geboren sind. Er war zuerst da, doch er hat Erbrochenes in die Lunge bekommen und eine Woche länger auf der Säuglingsstation verbracht. In dieser kritischen Anfangszeit ist nach ihrer Vorstellung ein Band zwischen ihnen geschmiedet worden – damals, als es noch keine Eltern gab, nur Krankenschwestern und andere Oktoberseelen, die sich ins Leben schrien.
Im achten Schuljahr willigt sie ein, ihn zu küssen. Es ist der Tag vor seinem dreizehnten Geburtstag, und ihre Clique, dieselbe Clique wie immer – Kenny, Gwen, Adam, Michael, Jennifer – verbringt ein paar Stunden am Trampolin hinter dem Bioladen. Hinter dem Trampolin ist der Wald und ein Weg, den sie langgehen, um zu knutschen oder die, die knutschen, heimlich zu beobachten. An diesem Tag willigt sie ein, ihn zu küssen, mit ihm in den Wald zu gehen. Man hat es unter der Woche besprochen, und nun, am Sonntag, ist es soweit, und alle sind dabei.
Sie macht Ausflüchte. Zaudert. Irgendwas. Er kann sich nicht genau erinnern. Er ist frustriert und geht mit Kenny und ein paar anderen zum Café, um Wasser und Süßkram zu kaufen. Sie bleibt am Trampolin, und er hat Angst, dass sie, wenn er wiederkommt, immer noch nicht mit ihm in den Wald geht. Die Bande zieht los, über den Parkplatz des Einkaufszentrums und über die Route 7. Sie kaufen ihr Zeug und laufen zurück. Er zuckelt hinterher, befürchtet, dass sie nicht mehr will oder sich für jemand anderen entschieden hat. Dass er der Einzige ist, der heute nicht in den Wald geht. Alle überqueren wieder die Fernstraße, und er schlappt hinterher. Kommt drüben an, und plötzlich wird alles weiß.
Später erinnert er sich an einen Krankenwagen und an beruhigendes Zureden. An das Gefühl, nirgendwo zu sein – zwischen Land und Meer, Leben und Tod, Schlaf und Wachen –, alles verschwimmt nach außen, und ein Gefühl großer Befreiung erfüllt ihn, das Gefühl, zu fliegen. Herausgerissen, fortgetragen zu werden. Nur kurz taucht er aus diesem Nirgendwo auf und ist enttäuscht, als er am nächsten Tag in einem Krankenhauszimmer zu sich kommt, umringt von seiner Familie, eingehüllt in Castverbände.
Es wird geredet. Es heißt, er und Kenny hätten gespielt, wer zuletzt den Autos ausweicht. Das wird als Tatsache gehandelt und kommt seiner Mutter zu Ohren, die sich sehr darüber aufregt. Er selbst erfährt von dem Gerede erst später und denkt insgeheim, dass alles bis ins Schlimmste stimmt, obwohl man ihm sagt, dass nichts daran ist. Er erinnert sich nicht an den Unfall, doch ein Mann aus dem Ort wird festgenommen, weil er unter Heroin- und Alkoholeinfluss gefahren ist. Was aus diesem Mann geworden ist, erfährt er nie.
Katherine kommt mit den anderen ins Krankenhaus und bringt ihm Bücher mit. Er liest sie – alle –, in Erinnerung bleibt ihm aber nur die Geschichte von den Kindern, die durch einen Wandschrank in eine Welt des unanfechtbar Guten und des schrecklich Bösen gelangen, mit Eisköniginnen und Löwen; die vergisst er nie. Auch in vielen anderen Büchern, die sie ihm schenkt, gibt es eine Zaubertür, durch die man tritt – eine sprudelnde Quelle, deren Wasser einer Familie die
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