Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Unsterblichkeit verleiht, einen Goldring, der einen gewöhnlichen Hobbitjungen zur Hoffnung für das Gute in seiner Welt werden lässt, einen Schrank, durch den Kinder einem unglücklichen Zuhause entkommen –, irgendeinen unscheinbaren Alltagsgegenstand, der als Pforte zu einer Welt der Wunder dient.
Weil er noch nicht an Krücken gehen kann, wird ihm ein Bett in dem Zimmer hergerichtet, das seine Familie »das Hinterzimmer« nennt. Der Raum ist zwei Etagen hoch, und zu den Büchern und Spielen oben kommt man über eine Holzleiter. An der Rückwand des Hinterzimmers ist ein riesengroßes Fenster mit einem alten Ahornbaum davor, der an der Scheibe und an der Seitenwand des Hauses kratzt. Dahinter ein Rasen. Hinter dem Rasen der Wald. Die Schlafzimmer des Hauses sind im ersten Stock und weg von ihm, so dass er nachts sehr allein ist. Der Baum schrammt ans Fenster, vom Wald her knackt und knallt es, und das rote Licht am Feuermelder blinkt wie eine verwunschene Perle. Er liest immer mehr in dieser Zeit. Zieht sich weiter in sich selbst zurück und fühlt sich zerbrechlich in dem kleinen Bett am Boden des Zimmers mit dem großen Fenster.
Freunde kommen und bleiben über Nacht, Lehrer bringen Hausarbeiten. Seine Mutter spielt Krankenschwester und kümmert sich um seine Castverbände und die Krankengymnastik, die er täglich machen soll. Sie bringt ihm Essen und trocknet ihm das Gesicht, und tagsüber, wenn sie bei ihm ist, fühlt er sich sicher. Fast wünscht er sich, die Zeit zu Hause würde ewig dauern. Etwa einen Monat später geht er an Krücken wieder zur Schule und ist zwar froh, herumlaufen zu können, bedauert aber doch, dass ihn keiner mehr bemuttert und umsorgt.
Bevor er aber nach Hause kommt, bevor er das Krankenhaus verlässt, oder vielmehr am ersten Tag dort, bringt ihm die Krankenschwester eine Bettpfanne, in die er pinkeln soll. Er ist bewegungsunfähig, kann nicht ins Bad und sieht schlagartig in den Knochenbrüchen etwas Gutes, einen Glücksfall. Eine Möglichkeit, das immergleiche Muster aus Fummeln, Herumspringen, Rasen und Erleichterung zu durchbrechen. Gerade dreizehn geworden, und ein kleiner Riss tut sich auf in der bisher wie zugemauerten Tür. Ein wunderbarer Hoffnungsschimmer. Er pinkelt in die Bettpfanne, und es ist ein Gefühl, als ob er tausend Glassplitter ausscheidet, aber die Hände gehen nicht automatisch zum Penis. Im Krankenhaus kann er jedes Mal pinkeln, ohne sich anzufassen.
Anderthalb Jahre später, pummelig, bartlos, zu hübsch und oft für ein Mädchen gehalten, geht er als Austauschschüler nach Australien. Zwischen dieser Zeit und dem Krankenhausaufenthalt gibt es viele Augenblicke des Triumphs, wenn er vor einem Becken steht und ohne das alte Ritual pinkelt. Oft gibt es auch Rückschläge, so dass er sich einschließen und fast eine Stunde mit sich kämpfen muss. Das geht so, bis diese Phase, die ihm immer ein Rätsel bleiben wird, allmählich ausklingt. Er ist noch in Australien, als ihm endlich Haare unter den Armen und im Schritt wachsen, als sich Muskeln unter dem Babyspeck bilden und er wächst, in die Länge geht. Diese Entwicklung vollzieht sich so leise und harmonisch, dass er gar nichts davon mitbekommt und erst bei seiner Heimkehr merkt, dass sich das Energiefeld um ihn her verändert hat, dass man anders auf ihn reagiert. Und als all das, wofür er gebetet hat, sich einstellt und geschieht, schleicht sich seine alte Nemesis davon. Er kehrt nach einem halben Jahr Australien zurück und gerät nie wieder, nicht ein einziges Mal, vor einer Toilette in Panik.
Alles wird vergessen: jede verriegelte Tür, jede Stunde, die er sich auf Toiletten geplagt hat, jede Flucht in den Wald, wo ihn keiner sehen konnte. Erst mit sechsundzwanzig erinnert er sich, dass er einmal Schwierigkeiten hatte. Und da fällt ihm dann alles ein.
Nie wird es eine Erklärung für das Leiden seiner Kindheit geben. Nichts als Theorien, eine Mischung aus Psychologie und kinderärztlicher Diagnose, aber nichts Konkretes oder Eindeutiges.
Katherine und er verabreden und küssen sich und gehen miteinander und meiden sich bis zur dramatischen Versöhnung die ganze Grundschule und Highschool hindurch bis zum Studium und darüber hinaus. Sie geht nach Schottland, auf eine berühmte Universität in einer alten Stadt am Meer, und liest die Trilogie eines großen schottischen Schriftstellers über ein Mädchen und ihre Familie – über alles –, aus der sie oft zitiert.
Weitere Kostenlose Bücher