Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Zwangsvollstreckung auszusetzen. Und diese Möglichkeit saß im Keller. Hätte sie nur gewusst, wie sie es anstellen sollte, ihn zu zwingen, sein Geld rauszurücken! Aber sie war allein, jetzt, wo auch Julius sie im Stich gelassen hatte.
Sie sah aus dem Fenster über die Dächer der anderen Häuser auf den weiter entfernten Waldsaum. 1974 hatten sie dasHaus gebaut. Auf dem Grundstück, welches sie von ihrer Familie geerbt hatte. Der Hälfte des Grundstücks. Ursprünglich hatte ein anderes Haus hier gestanden. Ein Haus, das sie nach ihrer Flucht aus Ostpreußen bekommen hatten, 1945, kurz vor Kriegsende. Alles war in Auflösung begriffen, als sie bei ihren Verwandten in Bayern angekommen waren. Diese Villa hatte leer gestanden, sie waren kurzerhand eingezogen. Von wem ihr Vater sie gekauft hatte, wusste sie nicht. Es hatte sie auch nie interessiert. Sie wusste wohl, dass die Familie, die in der Villa gelebt hatte, das Haus fluchtartig verlassen musste, und offensichtlich hatten Nachfahren später Regressforderungen angemeldet. Aber ihrem Vater war es gelungen, alles abzuwehren. Er hatte auch nicht darüber geredet. Er war der Meinung gewesen, man solle weder mit politischen noch mit finanziellen Belangen die Familie belasten. Ihre Mutter hatte es ihm mit lebenslanger Ergebenheit gedankt. Als Gudrun das Haus dann erbte – ihre Eltern waren gemeinsam in den Freitod gegangen –, hatte Volkmar sich geweigert, in das Haus einzuziehen. Es war ihm zu unmodern gewesen. Also hatten sie es kurzerhand abgerissen, das Grundstück geteilt, die eine Hälfte verkauft und auf der anderen diese moderne Villa im Stil eines Bauernhauses errichtet. Aber Gudrun liebte dieses Haus nicht. Es war klobig, dunkel und machte ihr Angst. In den ersten Jahren nach ihrem Einzug, als vielleicht noch Geld da war – oder sie zumindest so getan hatten –, war das Haus lebendig gewesen. Sie hatten Partys gefeiert, Leute empfangen. Aber als die Zeiten schlechter wurden, Volkmar sich selten zu Hause blicken ließ und Annette zu ihrem Mann gezogen war, da hatte sie ganze Tage auf der Terrasse verbracht, um nicht ins dunkle Haus zu müssen. Als Annette schließlich nach fünfzehn Jahren zurückgekommen war, hattensie das Haus geteilt, damit ihre erwachsene Tochter eine Einliegerwohnung für sich hatte. Und Gudrun hatte angefangen, sich oben im ersten Stock ihren Adlerhorst, wie sie es nannte, einzurichten. Von hier oben hatte sie einen guten Blick über die Nachbarn, über die Straße und auch in einen Teil ihres eigenen Gartens. Sie fühlte sich so, wie sie sich als Mädchen gefühlt hatte, als sie im Pflaumenbaum gesessen und einen umfassenden Blick auf das Gut gehabt hatte. Das Herrenhaus, wo die Mädchen die Betten zum Lüften aus dem Fenster gehängt hatten. Auf den Garten, in dem ihre Mutter im hellen Seidenkleid ihre Rosen geschnitten hatte. Auf die Stallungen, aus denen die Knechte den Mist hinaus- und das Stroh hineinfuhren. Wo ihr Vater den größten Teil des Tages verbracht hatte, um seine Pferde zu begutachten und sie auszureiten. Auf den Hofplatz, auf dem die Magd gesessen und Gänse gerupft hatte, die Katzen umhergestrichen waren und der Hund an der Kette gelegen hatte.
Wenn sie heute aus ihrem Versteck hinunterblickte, sah sie nur den Verfall. Der riesige Stapel mit Kaminholz, der seit vielen Jahren vor sich hin moderte, weil niemand mehr den Kamin anfeuerte. Sie hätte ihn im kommenden Winter gut nutzen können, da sie kein Geld mehr für Heizöl hatte. Aber der Kamin war verstopft, der Rauch zog nicht mehr ab.
Sie sah das schrottreife Fahrrad von Annette, das am Stapel lehnte. Ihre Tochter nutzte es kaum, weil sie das Haus so selten verließ wegen ihrer Depressionen. Sie selbst nahm das Rad, um damit in den Ort zum Einkaufen zu fahren, aber auch das fiel ihr immer schwerer. Die Autos fuhren schnell und nah an den Radfahrern vorüber, sie hatte immer Angst davor, das Gleichgewicht zu verlieren und auf die Straße zu stürzen. Also ging sie jetzt öfter zu Fuß.
Sie sah die Garage, die sie seit Volkmars Tod nicht mehr geöffnet hatte. Zwischen den Granitsteinen, mit denen die Einfahrt zur Garage gepflastert war, wuchs das Unkraut dicht und hoch. Gudrun dachte an den cremefarbenen Mercedes SE 220, den sie und Volkmar gefahren hatten. Mit wunderbaren Ledersitzen. Eines Tages war er verschwunden, Volkmar hatte ihr nicht gesagt, wohin.
Plötzlich wusste Gudrun von Rechlin, dass sie eine Verwendung für die Garage hatte. Dass die Garage
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