Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatte, hinters Ohr. »Schhh«, machte er, als müsste er ein scheuendes Pferd beruhigen, »sie ist deine Tochter. Sprich nicht so von ihr.«
»Du hast keine Ahnung.« Gudrun stand auf und schenkte Harald Kaffee nach. Für ihn hatte sie richtigen Bohnenkaffee gemahlen. Sie kam lieber wieder auf das Problem im Keller zu sprechen, über Annette wollte sie nicht reden.
»Ich führe dich nachher gleich runter. Schau’s dir an, dann können wir einen Plan machen, wie wir vorgehen. Ich muss diesem Kerl etwas zu trinken bringen.«
»Und zu essen? Gibst du ihm nichts zu essen?«
Sie schüttelte den Kopf und sah in seinem Blick, dass erdas missbilligte. Er schob den leeren Teller beiseite und wischte sich den Mund an der Papierserviette ab.
Sie seufzte und legte einen Apfel neben die Wasserflasche, die sie für den Gefangenen bereitgelegt hatte. Von dem Mann hatte sie Harald bereits am Telefon erzählt. Sie hatte ihm gesagt, dass sie seine Hilfe benötigte, dass er den Kerl dazu bringen müsse, ihr sein Vermögen zu überschreiben. Dass Harald dafür sorgen solle, dass der Schweinehund ein entsprechendes Schreiben unterzeichnete. Was sie sonst noch von ihm erwartete, davon hatte sie kein Wort gesagt.
*
Als sie in Lohdorf aus der S-Bahn stieg, war Beate Klinger einen Moment orientierungslos. Sie war gemeinsam mit Julius schon einmal hier gewesen, allerdings waren sie mit dem Auto gefahren. Klaus hatten sie damals bei seinem Betreuer gelassen, der sich nebenher ein bisschen Geld verdiente, indem er auch in seiner freien Zeit auf seine Schützlinge aufpasste. So hatte sie es heute auch gemacht. Klaus war einverstanden gewesen, denn er durfte sein neues Modellflugzeug mitnehmen und es mit dem Betreuer steigen lassen. Natürlich hatte er nach seinem Papa gefragt, denn das Privileg, ein neues Modell in die Luft steigen zu lassen, hatte von jeher Julius, der Klaus erst mit dem Modellflugzeugbau bekanntgemacht hatte.
Beate sah sich auf dem Bahnsteig um. Einige Familien waren mit ihr aus der Bahn gestiegen, aber diese waren bereits die Treppe hinunter verschwunden. Beate folgte ihnen. In der Unterführung hatte sie die Wahl, nach rechts zum Bahnhofsplatz zu gehen oder nach links in Richtung einer Klinik. Siewählte den rechten Ausgang. Auf dem Platz war ein leerer Taxistand, aber auf der daran vorbeiführenden Straße herrschte etwas Verkehr. Einige Fahrradfahrer und wenige Fußgänger. Beate fasste sich ein Herz und sprach eine junge Frau an, die mit Kinderwagen und einem Kleinkind auf einem Laufrad unterwegs war. Diese wies ihr den Weg zur Wettersteinstraße, und als Beate die Unterführung durchquert hatte, erkannte sie den dahinter liegenden Platz. Sie wusste, wo sie abbiegen musste, und nach wenigen Metern erreichte sie das Gartentor der Rechlins.
Dort zögerte Beate. Das Anwesen wirkte abweisend, obwohl es im hellen Sonnenschein dalag, es flößte ihr Furcht ein. Ihr Finger, der die bronzene Klingel schon berührt hatte, zuckte zurück. Warum war sie hergekommen? Was erwartete sie von Gudrun? Sie wusste doch, dass Julius niemals hier angekommen war, und dennoch. Ihre Intuition hatte sie hergeführt, weil sie glaubte, in Lohdorf mit der Suche beginnen zu müssen. Aber jetzt wurde sie unsicher, schon der Gedanke an eine Begegnung mit Gudrun von Rechlin schüchterte sie ein. Sie hatte sich nicht angemeldet, sie wusste nicht, wo sie über Nacht bleiben sollte, Gudrun hatte allen Grund, ihr die Hilfe zu verwehren. Andererseits war sie vielleicht froh, dass Beate kam, schließlich beherbergte sie einen fremden Mann in ihrem Keller, einen Mann, den Julius entführt hatte. Der Mann, dessentwegen Julius sich auf den Weg gemacht hatte. Beate Klinger warf einen Blick auf die Villa. Sie war mächtig und wirkte massiv wie eine Burg. Nichts an dem Gebäude war einladend, im Gegenteil, es schien dem Besucher zu sagen, dass er nicht willkommen war. Der Garten war ungepflegt, und jetzt, im späten Sommer, lag immer noch das Laub vom letzten Herbst unter den Bäumen. Es gab in diesemGarten nichts Buntes, keine Blumen, nur Koniferen und Immergrün. Die Laubbäume, wie die von der Miniermotte beschädigte Kastanie, blühten schon längst nicht mehr. Weiter hinten im Garten, am Ende der ungepflegten Rasenfläche, konnte Beate Obstbäume sehen und einen großen Komposthaufen. Dort standen immerhin Körbe, und am Apfelbaum lehnte eine Leiter, was darauf hinwies, dass Gudrun oder ihre Tochter wenigstens hier
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