Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
nicht.
Thalmeier wiegte den Kopf. »Wenige. Sehr wenige. Raffiniert, das gibt’s nur im Krimi. In den häufigsten Fällen sind die Leute hilflos und brutal. Sie erschlagen, sie stechen zu, sie würgen. Aus Neid, Wut, Enttäuschung. Und die meisten machen sich nicht klar, wie mühsam es ist, einen Menschen wirklich zu töten. Oftmals sind die Opfer noch gar nicht richtig tot, wenn der Täter von ihnen ablässt.«
»Ich glaube, jetzt ist es mal gut mit den Gruselgeschichten«, schritt Kyra sanft ein. »Rubina, für dich ist es spät genug. Schau bitte noch mal die Lateinvokabeln an, dann ab ins Bett.«
»Manno.« Rubina zog eine Schnute. »Darf ich nicht mehr Tatort gucken?«
Andreas schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Heute kommt nicht der Lustige. Und morgen ist Schule, ich habe gesagt, du darfst nur in den Ferien.«
»Aber der Noah darf.« Rubina schmollte.
»Ey, Mann, ich bin vier Jahre älter!« Es war Noah anzumerken, dass er es genoss, der Ältere zu sein. Seine beiden großen Geschwister, Jeremias und Zora, waren heute Abend nicht da.
Damit der Streit nicht eskalierte, standen alle Erwachsenen auf und begannen, den Tisch abzuräumen. Rubina verabschiedete sich artig von Thalmeier, der ihr versprechen musste, seine Mordgeschichten ein anderes Mal fortzusetzen. Als der Tisch abgeräumt und Kyra mit Andreas vor den Fernseher verschwunden war, bot Stifter Thalmeier an, ihn zur S-Bahn zu begleiten. Aber Thalmeier lehnte mit dem Hinweis ab, dass Stifter früh rausmüsse und er den Weg allein finde. Höflichkeitshalber drängte Stifter sich auf, noch den Weg über die Felder zusammen zu gehen, bis zum Ortsrand von Lohdorf.
Sie schlenderten nebeneinanderher, und Thalmeier kam schnell wieder auf die Damen von Rechlin zu sprechen.
»Gut hat sie nicht ausgesehen, die alte Dame. Ziemlich üble Prellung im Gesicht. Wirkte sehr frisch, die Verletzung.«
»Ja, unschön«, bestätigte Stifter.
»Glaubst du, die prügeln sich, Mutter und Tochter?«, hakte Thalmeier forschend nach.
»Nein. Die Tochter jedenfalls nicht. Niemals. Aber vielleicht ist die Alte im Haus verunglückt. Kann schon mal passieren.« Stifter wollte nicht, dass Thalmeier sich als Hobbypolizistbetätigte und aus reinem Ennui einen Fall schuf, wo keiner war.
»Schon. Aber giftig hat’s geschaut. Und auf die Frau am Tor war sie auch nicht gut zu sprechen.«
»Ich hab ja gesagt, dass die Alte eine Giftschlange ist. Sie hätten sehen sollen, wie die mit ihrer kranken Tochter umgegangen ist.«
»Mei, jetzt sag halt Schorsch!«, platzte Thalmeier heraus und blieb auf der Stelle stehen. »Sogar mit deinen Vermietern bin ich schon per du. Das macht man nicht, hier herunten. Das ist anders als bei euch in Hamm, Westfalen.«
Stifter schwieg. Er wollte nicht zugeben, dass er von Thalmeiers eruptiver Sympathiebekundung geschmeichelt war. Und dass ihm der alte Bayer nähergekommen war, als er sich das eingestehen wollte. Aber mit dem Du tat er sich doch schwer. Obwohl Thalmeier recht hatte: Hier unten taten das alle, es wurde inflationär geduzt.
»Also gut. Johannes.« Er streckte Thalmeier die Hand hin.
Dieser nahm sie lachend entgegen und drückte sie fest.
»Schorsch. Freut mich.«
Sie standen mitten auf dem Feldweg in der heraufziehenden Dämmerung, als ein Fahrradfahrer in hohem Tempo auf sie zuhielt. Kaum hatte er die beiden Männer erreicht, bremste er abrupt, so dass der Kies seitlich wegspritzte.
»Hi.« Es war Noah. Er sah die beiden Männer nicht an, sondern popelte an seinem Lenker herum, der dunkle Haarvorhang fiel tief herunter.
»Kommst noch mit?«, baute Thalmeier dem Jungen eine Brücke.
Noah zuckte mit den Schultern und tat gleichgültig. Obwohl es offensichtlich war, dass er ihnen hinterhergefahrenwar, vermutlich, um noch weitere Geschichten aus Thalmeiers aktiver Zeit zu hören, dachte Stifter, tat er jetzt ganz unbeteiligt, als wäre ihr Treffen zufällig passiert.
»Dann geh’ ma noch ein Stückerl.« Thalmeier setzte seinen Weg zufrieden fort, an der einen Seite den Postboten, auf der anderen Noah mit seinem Bike.
Zu Stifter gewandt, sagte der Bayer: »Aber ich hätte an deiner Stelle schon ein Auge auf die da oben.«
Stifter sah, dass Noah aufhorchte und wollte lieber das Thema wechseln. Aber es war bereits zu spät.
»Rechlin?«, fragte Noah nach. »Was geht denn da ab?«
»Nichts«, dampfte Stifter ihn herunter. »Die alte Dame hat sich verletzt. Nichts weiter.«
Thalmeier zog die Augenbrauen hoch, unterließ
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