Postkarten
waren ganz aus dem Häuschen. Die zwei Frauen, die den Laden führen, also Jo-Jo, die Jüngere, sagt, sie bringt die Valentinssocken nach New York. Glaubt, daß sie sich gut verkaufen werden. Es ist komisch, im Sommer Wollsocken zu stricken, aber so kriegen sie einen Vorrat zusammen, sagen sie. Jedenfalls komm’ ich dabei sehr gut weg. Wo wollt ihr leben?«
»Wir haben eine Wohnung gefunden. Werden uns noch lange kein eigenes Haus leisten können. Ein großer alter Kasten unten am See, das alte Haus, das in acht Wohnungen aufgeteilt ist. Hat richtig große Fenster. Wird’ne Unmenge Stoff nötig sein, um Vorhänge zu nähen. Ich will sie nicht nackt lassen.«
»Färb einfach ein paar Laken ein, wie du sie haben willst, und säum sie ein. Decken die größten Fenster zu. Paß auf, Mernelle, du behältst das Geld für dich. Falls du in Not gerätst. Oder als Grundstock für eine Ausbildung. Deiner Kinder.«
Aber Mernelle erzählte Ray davon auf dem Weg nach Rouses Point, flüsterte es ihm ins Ohr, während vorne Mrs. Greenslit vom Grabstein ihres Vaters und dem armlosen Lastwagenfahrer redete. Jewell bemerkte, daß die Frau eine erbärmliche Fahrerin war, die bei jeder Kurve auf die Bremse trat, vergaß, bei der Steigung herunterzuschalten, bis das Auto bockte.
21
Autofahren
Sobald Ronnie ihr die Tricks mit der Kupplung und dem Schalten beigebracht hatte, schien es, als würde sie schon seit Jahren fahren. Sie hatte ein Gespür dafür, und im August hatte sie den Führerschein in ihrer neuen braunen Handtasche und wagte sich auf Straßen, auf denen sie nie gefahren war. Ihre Angst war, das Auto an einer Steigung abzuwürgen und den Verkehr aufzuhalten, während sie zu starten versuchte, den Motor absaufen zu lassen, die Bremse zu vergessen und rückwärts in einen Krankenwagen hineinzurollen.
Anfangs blieb sie auf den Hauptstraßen im Tal, aber nach ein paar Wochen begann sie, sich Gebirgsstraßen auszusuchen, wo sie sich in die Kurven legen oder die alte Karre die Steigung bis zu einem Aussichtspunkt hinauftreiben und von dort aus das Panorama durch ihre neue Brille betrachten konnte. Das Einerlei brach auf: Beim Fahren entfaltete sich ihre unterdrückte Jugend wie ein Band, das von einer Spule gewickelt wurde.
Da war der Gedanke an das, was Fremde sahen - wenn man irgendwohin fuhr, wollte man etwas sehen, wenn man stundenlang mit auf die Straße gerichteten Augen gefahren war, wollte man sie bis an die Grenzen der Erde schweifen lassen, je weiter, desto besser. Ihr ganzes Leben hatte sie die mit Büschen bewachsene Hügellinie vor dem Himmel als etwas Unwandelbares betrachtet, erlebte jetzt jedoch, daß die Landschaft wechselte, sich so weit hinzog, wie die Straßen reichten, sich die Anordnung von Felsen, Gewässern und Bäumen niemals wiederholte. Ausblick war mehr als nur Hügelketten und sich öffnende Täler, mehr als einander überlagernde Lichtschichten.
Wenn sie den Zündschlüssel umdrehte und das Auto aus der Einfahrt hinaussteuerte, der Kies verführerisch unter den Reifen knirschte, schwindelte ihr zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben vor Macht. Im Radio lief »Cherry Pink and Apple Blossom White«, und sie war glücklich. Wenn sie Auto fuhr, fühlte sie sich jung und wie in einem Film. Von dem Vergnügen, das die Entscheidung bereitete, welche Abzweigung und welche Straße man nahm, wo man anhielt, hatte sie nie etwas geahnt. Genausowenig von dem Fahrtwind, der ihr ins Gesicht blies und ihr drahtiges Haar zerzauste, als wäre es Kinderhaar. Als hätte man ihr das ganze Land zu eigen gegeben. Hatten Männer, fragte sie sich, dieses Gefühl von Leichtigkeit, das Gefühl, alle Sorgen wegzuwischen, wenn sie in ihre Autos oder Lastwagen stiegen? Ihren Gesichtern war beim Fahren keine besondere Freude abzulesen. Männer verstanden nichts von der unermeßlichen Eintönigkeit, Woche um Woche, Monat um Monat dieselben engen Zimmer zu bewohnen, denselben ausgetretenen Trampelpfad zur Wäscheleine zu gehen, der immer gleiche Garten. Bald kannte man alles in- und auswendig. Der Verstand eingesperrt von Problemen wie kaputtes Glas, der Suche nach Groschen in fusseligen Jackentaschen, saurer Milch. Es gab kein Entkommen vor den Sorgen. Sie schleppten sich mit einen an den Spiegel, schwärmten über den Schnee, füllten das schmutzige Spülbecken. Männer konnten sich das Leben der Frauen nicht vorstellen; als handelte es sich um eine Religion, schienen sie zu glauben, Frauen seien von einem instinktiven
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