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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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anderen Leben.

22
    Der Dermatologe in der Wildnis

    Dr. Franklin Saul Witkin, siebenundvierzig, hängende Schultern, äußerlich ein Städter, aber seit seiner Kindheit von Phantasien der Wildnis heimgesucht, saß auf der Steinmauer und blickte auf das Chaos der von ihm erworbenen Landschaft. Es gab zuviel zu betrachten. Knorrige Äste. Das drängende, aber sinnlos verwinkelte Deuten der Hauptäste. Waffelfarbenes Gras. Bäume, die lautlos chrom- und safranfarbene Explosionen gen Himmel sandten. Braun skizzierte Berge, zerklüftet von mit Glimmer durchsetzten Felsen. Das schreiende Licht. Er blickte auf, und der Himmel war von schwirrenden Punkten erfüllt. Wenn er in den Wald ging, kippte das Land, Bäume drängten sich wie Kriebelmücken, die Luft wurde fahl, und er hatte sich verirrt. Er kehrte stets zur Mauer zurück, um sich zu orientieren, fand in ihrer geradlinigen Standhaftigkeit, ihren von Flechten überwachsenen Steinen ein Halteseil in der Wildnis.
    Kurz nachdem er das Grundstück gekauft hatte, fuhr er hin, um die Jagdhütte zu planen. Der Gedanke an eine Jagdhütte war ihm gekommen, als er vierzehn gewesen war und Fotografien von Teddy Roosevelt in einem mit Tierköpfen und -fellen dekorierten Blockhaus betrachtet hatte. Er nannte seine Traumhütte »Waldkate«, im Glauben, eine Kate sei eine Art Wildlager.
    »Es soll nicht einfach eine Jagdhütte werden. Es ist ein Wochenendhäuschen für uns alle«, sagte er zu Matitia. Sie kam zwei-, dreimal mit den Zwillingen. Aber sein Halbbruder Larry J., ein New Yorker Galerist, ein Mann mit hundert Interessen und tausend Freunden, war wirklich aufgeregt. Larry war sieben Jahre älter als er, der Sohn aus der ersten Ehe seines Vaters mit Jolana. Sie kannten einander nicht gut, hatten sich erst auf der Beerdigung ihres Vaters kennengelernt. Wer hatte Larry von dem Grundstück erzählt? Seine New Yorker Stimme redete am Telefon von Jagdwochenenden im Herbst, der Jagdsaison, von schönen Hunden, die ausschwärmen und das Wild aufspüren würden. Keiner von beiden hatte jemals gejagt.
    »Es ist doch eigentlich komisch. Wir haben keine Ahnung vom Wald. Wir kennen uns nicht. Und doch lieben wir beide diese Gegend. Beide haben wir als Kinder von Hütten im Wald geträumt.« Larry stand zwischen den Bäumen, knöcheltief in abgefallenem Laub, ohne Witkin anzusehen. »Es ist etwas anderes, als zum Skilaufen zu kommen oder in einem Gasthaus in Woodstock zu übernachten oder auch Freunde zu besuchen oder ein Haus für den Sommer zu mieten. Daß jemandem aus der Familie dieses Land gehört...« Es war ihnen ein bißchen peinlich, ihre Gefühle zu beschreiben. Der Besitz war wie ein Hörrohr, durch das sie einander verstehen konnten.
    Als Witkin zum ersten Mal hinfuhr, um sein Grundstück in Besitz zu nehmen, kam er mit Frau und Kindern, fuhr vorbei an dem windschiefen Bauernhaus auf halber Höhe des Hügels, dem unordentlichen Haufen aus Balken und Steinen, der einmal der alte Stall gewesen war, an den Wiesen und unter die dicht belaubten Ahornbäume.
    Er hatte gehofft, die alte Zuckersiederei auf dem Grundstück wieder herrichten zu können, aber sie war zu zerfallen. Lichtflecken sprenkelten die nachgebenden Mauern. Die Tür war im Boden versunken. Die Fenstersimse morsch, von Stachelschweinen angenagt, und auf dem Boden lagen Dachschindeln wie Spielkarten. Einzig die fünf auf fünfzehn großen hölzernen Bolzen waren noch zu gebrauchen.
    Sie stellten das neue Zelt auf ebenem Grund unter den Ahornbäumen auf und legten einen Kreis aus Steinen darum. Langsam verblaßte das Licht unter den Bäumen, Dunkelheit senkte sich auf sie. Das Zelt glühte. Kevin und Kim ließen den Strahl ihrer Taschenlampe durch den Wald blitzen, der Lichtkegel hüpfte wie etwas Lebendiges zwischen den Bäumen herum.
    »Ihr zwei, laßt das, oder ihr verbraucht die Batterien und müßt im Dunkeln schlafen.« Sie saßen bis spät ums Feuer. Als die Zweige im Wald knackten, meinte Witkin, sie sollten sich nicht ängstigen, es gebe keine gefährlichen Tiere, dachte aber voll Angst an Bären. Keiner von ihnen hatte zuvor im Freien geschlafen. Kim pinkelte in ihren Schlafsack, weil sie in der Nacht Angst bekam.
    »Ich hab’ draußen etwas Großes schnaufen hören.«
    »Das waren bloß wir, unser Atem.«
    »Nein, nein. Ihr atmet ruhig. Es war ein großes, schreckliches Schnaufen. So.«
    Witkin konnte es nicht ertragen, aus der unschuldigen Kehle seiner Tochter die Nachahmung seines triebhaften Schnaubens

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