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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Paar Nylonstrümpfe, 60 Gauge, 15 Denier, »Flott Beige« stand auf dem Etikett. Während sie Kuchen aß, betrachtete Jewell verstohlen Ray, betrachtete sein nichtssagendes Gesicht, seine dünnen Arme, seine hungrigen Augen. Wehmütig dachte sie an den durchtriebenen Dub, den gutaussehenden Loyal, die im Leben gestrandet oder verstümmelt worden waren, während der hier vorankam. Ray schnitt mehr Kuchen auf, während Mernelle vernarrt die Sägebewegung seiner Hand verfolgte. An ihren Gabeln hing die Kokosglasur. Mrs. Greenslit plapperte. Jewell spürte, wie grimmig sie in ihrer Einsamkeit geworden war. Aber sie lächelte und sagte, so freundlich sie konnte, der Kuchen sei köstlich und sie würde mit ihnen zur Hochzeit nach Rouses Point fahren. Und ging mit Mernelle auf den Dachboden, um ein bestimmtes Seidentaschentuch zu suchen, das mit handgeklöppelter Spitze umrandet war.
    »Es gehörte der Mutter deines Vaters, als sie heiratete, und sie hat es wiederum von jemand anders bekommen. Ich glaube, es stammt aus Irland. Es ist sehr alt.« Auf staubigen Stühlen saßen sie vor einem Koffer voll alter Schulbücher, unhandlicher Kleidungsstücke, einem zerschlissenen Büffelfell, Familiendokumenten und -fotografien, einem zerrissenen Sonnenschirm.
    »Es wird wohl nichts geben, was ich dir sagen könnte, das du nicht schon weißt«, sagte sie. »Du wirst Dinge lernen, über die man nicht sprechen kann.«
    »Na ja«, meinte Mernelle. »Soviel weiß ich gar nicht, aber ich vertraue Ray. Ich weiß, daß er mir niemals weh tun wird. Ich hab’ nie erlebt, daß er die Beherrschung verliert.« Ihre Stimme bebte. Sie klang tiefer, als hätte sie jeden Tag stundenlang gesungen. »Tja, also, ich bin wahrscheinlich nicht umsonst auf’ner Farm groß geworden. Aber eins möcht’ ich schon lang wissen.« Ihre Stimme schmeichelte. »Wegen Mrs. Nipple. Was war das mit Mrs. Nipple und Toot, das du mir nie erzählt hast?«
    »Mein Gott, das ist kein Gesprächsstoff für jetzt. Es ist doch ein glücklicher Anlaß, und diese grausige Geschichte deprimiert sogar einen Engel. Sie würde dir den Tag verderben, und die arme Mrs. Nipple würde sich im Grab umdrehen. Und mir würd’s auch den Tag verderben, die Sache auszugraben. Gehen wir nach unten und machen uns einen schönen Tag.«
    »Muß ja was ziemlich Gräßliches gewesen sein«, sagte Mernelle, halb schmollend. Sie hat viel mitgemacht, dachte Jewell.
    »Das kann man wohl sagen. Jetzt ziehe ich die neuen Nylonstrümpfe an, mal sehen, ob ich nicht die Braut ausstechen kann. Und noch was möchte ich dir geben. Das Geld für die Farm, das übriggeblieben ist, nachdem die Bank und alles bezahlt war. Das habe ich in gleiche Teile geteilt, so daß ich, du, Dub und Loyal, wir alle einen Anteil kriegen. Ist nicht besonders viel, macht für jeden zweihundert, aber ein bißchen was ist es. Wenn ich du wäre, würde ich es einfach auf die Bank bringen, Ray nichts davon sagen, nicht, daß er kein netter Kerl wäre, aber ich würd’ mir einfach was als Notgroschen beiseite legen. Du weißt nie, vielleicht kannst du’s eines Tages brauchen.«
    »Ma, das ist dein Geld. Ray und ich kommen schon zurecht.«
    »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich hab’ ja vielleicht graue Haare, aber in dem alten Mädel steckt noch Leben. Ronnie hat mir das Fahren beigebracht, damit ich mir eine Arbeit suchen kann. Du solltest Auto fahren lernen, sobald du kannst, Mernelle. Das macht einen Riesenunterschied im Leben.«
    »Ma, wir haben nicht mal ein Auto. Wir sind mit dieser Reporterin rumgefahren, Mrs. Greenslit, und wenn wir die je wieder loskriegen, dann bin ich so dankbar, daß es mir nichts ausmachen wird, auf Händen und Knien zu kriechen. Aber Ray spart. Und ich muß auch eine Stelle finden. Mit was willst du’s probieren?«
    »Eigentlich hab’ ich schon zwei Stellen. Es ist komisch. Ronnie hat mich hingefahren und abgeholt, war Teil der Fahrstunden. Wenn du gestern gekommen wärst, wär’ ich nicht dagewesen. Ich arbeite in der Konservenfabrik. Muß bloß das Gemüse schneiden, das die Lkws anliefern, die ganze Woche Karotten. Sie behaupten, daß sie alles kriegen, Brokkoli, Sellerie, Bohnen. Am Abend strick’ ich für den Ski-Laden Sokken, Abfahrt oder wie das Ding heißt. Lange Socken mit einem schicken Muster im Bein und Bündchen in Kontrastfarben. Ich hab’ ein Paar mit roten Valentinsherzen drauf gestrickt, wie bei dem Hut, den ich dir gemacht hab’, als du in der achten Klasse warst, und sie

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