Postkarten
mehr alle, und sie will in die Küche, um seine Mutter zu holen, und er packt sie, und sie schubst ihn weg, und er geht in sein Schlafzimmer, holt einen Revolver, kommt raus und sagt: ›Wenn ich dich nicht haben kann, dann auch kein anderer‹, und erschießt sie. Schießt sie tot. Und die Mutter ist die ganze Zeit über in der Küche und rührt im Eistee. Darum ist es so wichtig, einen anderen Menschen richtig kennenzulernen, bevor man ihn abschleppt. Stimmt’s, Ray?«
Mernelle und Ray MacWay saßen zu Salzsäulen erstarrt auf dem Rücksitz, waren sich der Körperhitze des jeweils anderen bewußt und horchten nicht auf Mrs. Greenslits Redeschwall, sondern auf das Geräusch des Atmens. Außer dem stockigen Polster roch Mernelle Seife, Shampoo, Kiefernholz, warme Haut, Pfefferminzkaugummi. Ihr Magen knurrte, und sie haßte ihn dafür, zwang ihn, zu kuschen.
In der Küche flog eine Hummel, die den Spalt zwischen dem Fliegengitter und dem Türrahmen irrtümlich fürs Nirwana gehalten hatte, gegen die Fenster und versuchte, wieder in ihre vertraute Welt zu entfliehen, die sichtbar und nah war, von der sie jedoch eine böswillige Kraft fernhielt.
Nach einer Woche war Mernelle wieder da, donnerte die Fliegentür gegen die Wand, als sie rückwärts in die Küche stürmte. Sie trug einen Pappteller mit einem Schichtkuchen, der mit Kokosflocken dick wie ein Pelz bedeckt war. Das Auspuffgeknatter im Hof verstummte, Autotüren knallten.
»Alles Gute zum Muttertag, Ma. Wir sind’s, ich und Ray. Mrs. Greenslit ist auch da.« Sie faßte Jewell um die Hüfte.
»Also, laß hören, was es Neues gibt«, sagte Jewell, erstaunt darüber, wie Mernelle sich verändert hatte; sie fühlte sich schuldig, weil sie sich so wenig um sie gesorgt hatte. Mernelle hatte ein blaues Kostüm mit langem Rock und eine kunstseidene rosa Bluse an. Sie trug Stöckelschuhe, und ihr Gesicht war geschminkt. Das schwarze Haar war geschnitten und dauergewellt, sah aus wie ein Helm aus Schafwolle. Sie wirkte größer, noch staksiger als früher, aber sie legte eine Selbstsicherheit an den Tag, die nichts mehr mit ihrem alten Kinderleben zu tun hatte.
»Ich erzähl’s dir schnell, bevor Ray und Mrs. Greenslit reinkommen, Mr. Trueblood wollte uns nicht trauen.« Murmelnd, halb flüsternd. »Er hat gesagt, das Ganze wäre nur ein Werbetrick, und er will uns nicht trauen, ehe wir uns nicht ein Jahr kennen. ›Schnell gefreit‹, hat er gesagt, ›schnell gereut.‹ Ray hat ihm eine verpaßt, und er hat den Sheriff geholt. Wir mußten alle ins Büro des Sheriffs in Billytown, und Mrs. Greenslit hat eifrig alles aufgeschrieben. Na ja, dann kam wieder’ne Geschichte im Trumpet , und wir haben unheimlich viele Briefe von Pfarrern gekriegt, die uns trauen wollen, auch von dem Pfarrer aus Rouses Point, der Mrs. Greenslits Vater beerdigt hat, als der starb. Deswegen fahren wir dahin. Ray will sowieso den Grabstein von ihrem Vater sehen. Wir fahren heute und wollen, daß du mitkommst. Mrs. Greenslit bringt dich dann wieder her. Ray und ich fahren in die Flitterwochen nach Montreal. Der Trumpet zahlt uns einen Teil. Ray will nicht, daß sie alles bezahlen. Er hat ein bißchen Geld gespart.«
Jewell stellte den Kessel fürs Kaffeewasser auf. Die Aufregung in der Küche schien ungeheuer. Mrs. Greenslit, die Papierteller austeilte, Plastikgabeln und -messer auflegte. »Hallo, hallo, hallo! Da sind wir«, rief sie. Mernelle ging die angeschlagenen Teller durch, suchte die vier schönsten aus. »Eiscreme ist auch da. Erdbeer. Pekannuß. Das ist die neue Sorte. Die werden Sie mögen!«
Ray kam mit einem Wachspapierknäuel herein und hielt es Jewell hin. »Die hat der Trumpet nicht gekauft«, sagte er und lächelte. Sein steifes Gesicht brach entzwei, legte schlechte Zähne bloß. Es war ein Dutzend Teerosen von der Farbe gekochter Krabben. Sie wickelte sie aus dem Papier, das so grün war wie frisches Pappellaub, füllte Wasser in einen Milchkrug. »Ist schon einige Jahre her, daß mir jemand Blumen geschenkt hat. Das heißt Blumen aus einem Laden«, und sie erinnerte sich an Mernelles aufgeregte Sträuße aus Gänseblümchen und Wicken, Veilchen mit einem Zentimeter langen Stengeln, welkendem Flieder.
»Freut mich, sie Ihnen schenken zu können«, sagte Ray und setzte sich neben Mernelle. Mernelle reichte Jewell ein in geblümtes Papier gewickeltes Päckchen. Sie machte viel Aufhebens, wie schön das Papier sei, glättete es und legte es beiseite. Es waren zwei
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