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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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wollten auf der Stelle dort arbeiten. Den Architekten, mit dem Sie arbeiten, kenne ich gut. Er ist mein Cousin. Keinem anderen ›amerikanischen‹ Grundstücksplaner wäre es eingefallen, einen kubanischen Architekten zu nehmen.«
    Sie meinte es ernst, dachte er, wie sie sich in ihrem grauen Seidenkostüm vorbeugte, die kleinen dicken Hände auf den Knien gefaltet. Das Haar war zu Zöpfen geflochten, die sich ordentlich um ihren Kopf wanden. Ihre Elfenbeinhaut war durch alte Aknenarben ein wenig entstellt - das verlieh ihr ein hartes, interessantes Flair, das er aus irgendeinem Grund mit dem Namen »Mercedes« verband.
    »Ich kann Ihnen ebenfalls nützen.« Das wußte er.
    »In dieser Stadt gibt es viele unsichtbare kubanische Millionäre. Es gibt Banken und Bankiers, eine ganze Gesellschaft, die vom amerikanischen Establishment in Miami nicht wahrgenommen wird. In dieser Welt haben wir unsere eigenen Ideale und Vorstellungen, unser eigenes Fernsehen und Radio, einen eigenen Stil, eine bestimmte Art, zu denken, zu gehen und zu sprechen, Ferien, Feste und Bälle, Wohltätigkeitsveranstaltungen und Lehrpläne, die Ihrer Welt vollkommen unbekannt sind. Ich kann Ihre Brücke zu dieser Gesellschaft werden. Natürlich nur, wenn Sie daran Interesse haben.« Sie meinte es todernst.
    »Nein«, sagte er. »Die Sekretärinnenstelle können Sie nicht haben. Aber mir wird gerade klar, daß ich eine Leiterin für die Abteilung interkulturelles Marketing und Entwicklung suche. Vielleicht würden Sie sich gern bewerben?«
    Als sie lächelte, erkannte er - im weißen Funkeln spitzer Zähne, im goldenen Glitzern eines Backenzahns -, daß er eine Piratin an Land gezogen hatte.

33
    Obregóns Arm

    In seinem Zimmer hing ein Spiegel über dem Waschbecken. Er schaute nur zum Rasieren hinein, und im Lauf der Monate trübten Seifenspritzer, Staub und Fliegendreck sein Bild - bis er von der Reise mit Ben nach Mexico City zurückkehrte, einer Reise, die er nicht um seiner selbst willen unternommen hatte, sondern um Ben aus dem Straßendreck zu ziehen, wenn er hinfiel. So schlimm war es noch nie gewesen.
    Nach zwei Wochen kamen sie zurück. Er half Ben, der zitterte und nicht reden konnte, durch die Küchentür in das große Haus, führte ihn an der Spülmaschine vorbei, am Hackbrett, an den baumelnden Schnüren mit Chili und Knoblauch, den an den Stengeln aufgehängten Kräutersträußchen, dem grüngrau schimmelnden spanischen Schinken, der wie ein Sandsack an einem schweren schmiedeeisernen Haken hing.
    Vor dem Kühlschrank stand die Köchin. Sie hielt die Tür weit auf; Fleisch, Gläser mit karibischer Pfeffersoße, französischem Senf, eingelegten Oliven, Kapern, Pinienkernen, Walnußöl, Milch- und Sahneflaschen, halbvolle Weißweinflaschen, wächserne Käse, Endivien- und Chicoréesalat, braune Chilischoten, große blaue Trauben, Hühnerbrüste waren zu sehen.
    »Piano«, schien Ben zu sagen. Seine tiefe, kaputte Stimme zitterte. »Piano.« Loyal blickte an ihm vorbei ins Wohnzimmer zu dem Gemälde an der Wand, das wie ein Blutfleck aussah.
    »Er sagt, daß Sie jetzt gehen sollen«, sagte die Köchin zu Loyal. »Die Hausfrau will, daß Sie gehen. Sie will, daß Sie verschwinden. Sie wollen beide, daß Sie gehen.«
    »Piano.«
     
    In seinem Zimmer sah Loyal, daß Vernita, die Quallenforscherin, gewaltige Veränderungen angeordnet hatte. Alles war von Gezeitenfluten durchnäßt, weggeschwemmt. Die Wände waren in einem bitteren Weiß frisch gekalkt, die Bodenkacheln geschrubbt, gewischt, gebohnert und spiegelten wie rotes Wasser. Er las die Botschaft im Funkeln des Aluminiumkessels, dessen Tülle wie der Mund eines Cherubs war. Bücher und Zeitschriften lagen ordentlich auf staubfreien Regalen, das Bett war abgezogen, die Fensterscheibe so klar, daß sie Entfernung auslöschte. Langsam drehte er sich um. Die Vorhänge blähten sich, das leere Waschbecken gierte nach einem süßen Wasserstrahl, auf den Hähnen loderte Licht.
    Der Spiegel zog seine Augen wie eine Tunnelöffnung in eine andere Welt. Er hatte so lange nicht hineingesehen, hielt sich immer noch für einen jungen Mann mit starken Armen, feinem schwarzem Haar und feurigen blauen Augen. Sein Gesicht, sah er, war hager geworden. Der blaue Spiegelrahmen umschloß seine erstarrten Züge. Die frische Lebendigkeit, die rasche Wut in seinen Augen waren verschwunden. Er sah die Haut des Asketen, dessen Hals niemals geküßt worden ist, die steifen Gesichtsflächen von jemandem, der

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