Power Down - Zielscheibe USA (German Edition)
weit auf der Wisconsin Avenue und ging dann an der Kreuzung rechts. Seit zwei Tagen hatte sie ihre Wohnung nicht mehr betreten. Sie besaß kein Haustier, also musste sie nicht unbedingt nach Hause. Trotzdem wollte sie wieder einmal ihre eigene Dusche benutzen, ihre Pflanzen gießen und die Post aus dem Briefkasten holen. Außerdem brauchte sie ein paar Kleider zum Wechseln; wer konnte schon sagen, wann sie das nächste Mal die Gelegenheit dazu erhielt.
Über Georgetown hingen dichte Wolken. Hohe Messinglaternen warfen ihr Licht auf die gepflasterten Gehwege, die Ladenfronten und Stadthäuser. Washington stand ein Schneesturm bevor, was hier recht selten passierte. Der Wind hatte aufgefrischt. Sie bog in die 24th Street ein und kam an der Standard Bakery vorbei. Der Duft nach frisch gebackenem Brot zog ihr in die Nase. Wenn sie zu Hause schlief, ging Jessica jeden Morgen, nachdem sie sich aus dem Bett gewälzt hatte, zum Laden und holte sich einen Kaffee und einen Himbeer-Muffin. Im Moment hatte sie dazu allerdings keine Zeit.
Jessica wohnte in einem dreistöckigen Backstein-Reihenhaus in einem ruhigen Viertel von Georgetown, unweit der Wisconsin Avenue. Das Haus stammte aus dem Jahr 1864 und verfügte noch über die ursprünglichen Bodendielen und Fenster und das originale Erscheinungsbild. Lächelnd ging sie die 24th Street entlang. Sie liebte Georgetown, ihr Viertel und ihre Straße. Alles kam ihr so vertraut vor – die Messinglaternen, die Backsteinfassaden und schwarzen Haustüren. All das ließ sie die Ereignisse der letzten paar Tage vergessen: Long Beach, Capitana, Savage Island. Fast unablässig hatte sie darüber nachgegrübelt. Nun füllte, zumindest für ein paar Sekunden, das Viertel mit seinen ordentlichen Häuserzeilen und der schlichten Schönheit der schmalen Kopfsteinpflasterstraße ihr Denken aus. Sie ließ, wenn auch nur für wenige Augenblicke, die sie sich stehlen musste, ihre Gedanken abschweifen.
Sie gelangte an die Fassade der Nummer 88, wo sie wohnte, steckte den großen silbernen Schlüssel in die Haustür, drehte ihn um und stieß die schwere, schwarz gestrichene Holztür auf. Im Flur lagen Prospekte, große Umschläge und Briefe auf einem Haufen. Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. Ihr blieb nicht viel Zeit. In einer Stunde musste sie wieder für eine Interagency-Sitzung im FBI-Hauptquartier sein.
Wie gebannt starrte Vic Buck auf das Bild an der Wand. Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigte ein Segelboot, das sich beinahe senkrecht nach hinten neigte. Ein heftiger Wind blähte das riesige Segel und schob das Boot in der Horizontalen vor sich her. Übers Wasser ragten, an einem Gurtgeschirr festgeschnallt, weit zurückgelehnt zwei Mädchen im Teenageralter. Hinter dem Boot war das Meer nichts als kabbelige Schwärze, unterbrochen nur von Gischtkronen. Die Mädchen lächelten, während sie durch das Wasser pflügten.
Buck zeigte keinerlei Regung, als er das Foto betrachtete. Tatsächlich nahm er es schon gar nicht mehr wahr. Nachdem er eine volle Minute lang auf das Bild gestarrt hatte, registrierte er weder das Segelboot noch das Meer oder die Mädchen. Stattdessen sah er einen Strand vor sich. Er selbst lag auf dem Sand. Eine Vorstellung, die sich seit mittlerweile zehn langen Jahren in seinen Geist eingebrannt hatte. So stellte er sich seine Zukunft vor, nachdem diese ganze hässliche Angelegenheit endlich ausgestanden war. Dieser Moment rückte immer näher, das fühlte er. Er konnte ihn beinahe schon auf der Zunge spüren. Zugleich spürte er, dass er bereits im Begriff stand, wieder zu entschwinden.
Das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss umgedreht wurde, riss ihn aus seinen Betrachtungen. Es kam von unten. Er blieb noch ein paar Sekunden stehen und starrte weiter auf das Foto. Nun fokussierte er es klar und deutlich. Das Mädchen zur Linken hatte lange blonde Haare und war mollig. Er hatte keine Ahnung, wer sie sein mochte. Das Mädchen zur Rechten allerdings, die mit dem Lächeln, erkannte er. Kurze rotbraune Haare, braun gebrannt, das Gesicht voller Sommersprossen, einfach hinreißend. Noch ein, zwei Sekunden lang starrte er die Kleine an.
Dann zog er den Lederhandschuh enger über seine linke Hand, um anschließend dasselbe bei der rechten zu tun, schob die Skimaske über sein Gesicht. Nur zwei Augenschlitze blieben frei.
Schließlich griff er unter die linke Achselhöhle und befreite die Glock 36 aus dem Nylonholster. Ruhig tastete er nach dem brünierten
Weitere Kostenlose Bücher