PR 2645 – Die Stadt ohne Geheimnisse
werden. Sie sollen im Auftrag der Fremden das Solsystem regieren.«
»Ein paar zehntausend?«, fragte Cranstoun. »Im Solsystem leben zwanzig Milliarden Menschen! Da sind zehntausend doch ein Witz.«
Routh zog die Brauen zusammen. »Vielleicht kannst du über diesen Witz lachen«, sagt er bitter.
Cranstoun antwortete nicht.
Routh dachte nach. Was hatte er sich nur von diesem Gang ins Universale Spainkon versprochen? Es war wichtig. Aber es war ihm entfallen. »Hier werde ich nichts für meine Tochter tun können«, sagte er.
»Vermutlich nicht«, gab Cranstoun zu. »Aber es muss einen Grund geben, warum du gerade hierher geschickt worden bist.« Er wies auf die Flusslandschaft mit ihren Terrassen.
»Ich bin nicht geschickt worden«, sagte Routh.
»Sicher?«, fragte Cranstoun. »Ich habe dich nicht hierher geführt. Du hast dich in diese Zeit vorgewühlt. Ich habe dir nur geholfen, das, woran hier erinnert wird, mit menschlichen Augen zu sehen. Diese Welt mit menschlichem Verstand zu verstehen. Du bist auf der Suche. Wonach?«
Puc, dachte Routh. Puc hat mich hergeführt. Er schaute auf sein linkes Armgelenk. Das Implantmemo befand sich an Ort und Stelle.
Puc aktiv!, dachte er. Aber Puc reagierte nicht.
Er schaute sich noch einmal um. Welchen Grund mochte Puc haben, ihn in dieser schieren Unendlichkeit an Erinnerungen gerade an diesen Ort, in diese Zeit zu schicken?
»Wo befinden wir uns?«, fragte er.
Cranstoun schaute sich bedächtig um. »Ich sagte bereits: Das ist die Stadt Chapoch. Tatsächlich ein merkwürdiger Ort. Chapoch spielte in der Geschichte der Chaom eine bedeutende Rolle.«
»Spielte? In welcher Zeit befinden wir uns?«
»Ich kann sie nicht genau datieren«, sagte Cranstoun. »Im Kontinuierlichen Sediment ist die Vergangenheit nicht lückenlos dokumentiert. Meine Welt besteht überwiegend aus Erinnerungen der Favadarei: ihr Leben auf Faland, ihre wunderlichen Erfindungen, ihre Versuche, auf die Brücke vorzustoßen. Dort – und dann – ist alles viel erfüllter.
Hier und jetzt«, Cranstoun machte eine umfassende Geste, »befinden wir uns in der ältesten Schicht des Kontinuierlichen Sediments. Es ist die Gedankenwelt der Ahnen. Der großen alten Gehirne. Der allerersten Chaom-Gehirne. Heiliges Land, wenn du so willst.«
Routh spürte, wie sich ein Schauer von Cranstoun auf ihn übertrug. Sie waren fremd an diesem Ort. Sie hätten nicht hier sein sollen.
Cranstoun fragte: »Siehst du dieses Schiff?«
Routh folgte dem Fingerzeig. Cranstoun wies auf das Containerschiff, das als einzige Last das Behältnis aus schwarzem Glas trug, in dem es grüngolden aufflackerte.
Cranstoun sagte: »Das Land und die Stadt wirken friedlich. Das täuscht. Die Chaom befinden sich im Krieg. Oh, sie werden triumphieren, keine Sorge. Doch zu diesem Zeitpunkt steht es gar nicht gut. Technologisch befinden sich die Chaom und das Somdoranische Imperium auf dem gleichen Niveau. Aber das Imperium verfügt über Ressourcen, die nachhaltiger sind als die der Chaom.
In ihrer Not haben die chaomschen Wissenschaftler und Militärs deswegen auf den eigentümlichen Totenkult ihres Volkes zurückgegriffen. Dir sind die Skulpturen aufgefallen? Gut. Diese Skulpturen stellen den lieben Dahingeschiedenen nicht nur dar – sie enthalten einen Teil von ihm: zerebrale Strukturen, Teile seines Gedächtnisses.«
»Die Skulpturen halten Hirnsubstanz von Leichen künstlich am Leben?«, fragte Routh ungläubig. »Das ist makaber.«
»Vielleicht hast du recht. Aber wir sind nicht im Menschenland. Den Chaom erscheint der Gedanke eines restlosen Verlustes eines Verwandten oder Freundes unerträglich. Das Wesentliche wollen sie verwahrt wissen: Das ist die Aufgabe der Thanatotekten. Sie stellen die Statuen her, die darin arbeitenden Lebenserhaltungssysteme, die Kapseln für die neuronalen Substanzen. Die Wartung und die rituelle Betreuung der Skulpturen übernehmen die Wohlverwahrer. Wenn wie in manchen Glücksfällen Wohlverwahrer und Thanatotekt ein und dieselbe Person sind, genießt sie höchstes gesellschaftliches Ansehen. Solche Chaom sind hochrangige Mediker, Künstler und Seelsorger in einem.
Bis zu diesem Zeitpunkt sind die Kunst der Thanatotekten und die Raumfahrttechnologie getrennte Sphären gewesen. Nun aber haben die Militärtechniker sich aus dem Wissen der Thanatotekten bedient. Sie haben eine Positronik geschaffen, die nicht nur zu Rechenprozessen fähig ist, sondern zu eigenständigen Entscheidungen, zu Gefühlen,
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