PR 2646 – Die Tage des Schattens
bestand, sehr viel weniger als allgemein erhofft.
Das Hauptaugenmerk freilich würde auf dem Wiedersehen der Ybarris liegen. Mit ihrem »dritten Auge« zoomte Phaemonoe die Erste Terranerin heran.
*
Für eine Spitzenpolitikerin war Henrike Ybarri mit 58 Jahren noch recht jung. Dabei hatte sie im Vorjahr bereits ihre dritte Amtszeit angetreten.
Sie galt als klug, willensstark und durch und durch seriös, aber spröde. Nach ihrer erneuten Wiederwahl war sie, fanden die meisten Kommentatoren, deutlich souveräner geworden, doch um nichts leutseliger.
Über Ybarris Privatleben wusste man kaum etwas. Zwei einvernehmlich aufgekündigte Ehen, zwei erwachsene Töchter, die nie im Licht der Öffentlichkeit gestanden waren – bis die jüngere, Anicee, dem Lockruf der Auguren erlegen war und Terra über das Transit-Parkett eines Gnauplons verlassen hatte.
Aus freiem Willen? Oder doch auf subtile, parapsychologische Weise beeinflusst und also entführt?
Diesbezüglich gingen die Meinungen auseinander.
Phaemonoe kannte Anicee, allerdings nicht gut genug, um sich ein Fernurteil zuzutrauen. Ihr Verhältnis war, was man »nicht völlig fraktionsfrei« nannte. Anicee hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie die schlampige sexuelle Beziehung, die ihr Vater mit Phaemonoe unterhielt, missbilligte.
Shamsur Routh, der Anicee so verzweifelt gesucht, geradezu verfolgt hatte ... Wo mochte er stecken? Hatte Sham Erfolg gehabt und seine Tochter gefunden, kam er etwa gar zusammen mit ihr zurück?
Wenn, dann ebenfalls als Neuformatierter. Von irgendwelchen Begleitpersonen war nie die Rede gewesen.
Phaemonoe schüttelte den Kopf, wodurch sie Henrike Ybarri kurz aus dem Fokus verlor. Nein, ihren gelegentlichen Liebhaber Shamsur konnte sie sich überhaupt nicht als Jünger der Auguren vorstellen.
Anicee?
Ja und nein.
Autoritätshörig war sie gewiss nicht. Sie hatte gegen beide Eltern heftig rebelliert, mehr als einmal im Verlauf der Pubertät. Andererseits hatten die Auguren geschickt an das jugendliche Protestpotenzial appelliert ...
Nun, in Kürze würden alle im Dolan Memorial Park um einiges klüger sein.
*
Etliche tausend Terraner hatten sich mittlerweile rund um das Monument und das Zelt unter der Paratronkuppel versammelt. Friedlich, doch voller angespannter Erwartung.
Phaemonoe Eghoo schwenkte zurück zur Begegnungsinsel der Ybarris. Eine junge Frau hatte sich zur Ersten Terranerin gesellt.
Millimeterkurzes rötliches Haar, breite Hüften, ein knochiger, fast vierschrötig zu nennender Körperbau – das musste Tuulikki Sakiran sein, Henrike Ybarris ältere Tochter.
Aus dem redaktionsinternen Datenspeicher von SIN-TC erhielt Phaemonoe die Bestätigung. Ja, es handelte sich um Anicees Schwester, eine mäßig gefragte Modeschöpferin, laut Eintrag zurückgezogen auf Luna lebend und ebenfalls gänzlich desinteressiert daran, eine ähnliche Karriere wie die Mutter einzuschlagen.
Sie trug ein sackartiges Gewand aus einem Syntho-Stoff, der Farbe und Musterung chamäleonartig an die Umgebung anpasste. Das Kleid verschmolz derartig mit dem Hintergrund, dass man zweimal hinschauen musste, um Tuulikki überhaupt wahrzunehmen. Sie drängte sich definitiv nicht ins Rampenlicht.
Nun, junge Frau, ob du willst oder nicht, dachte Phaemonoe: Deine fünf Minuten der Berühmtheit wirst du haben, und zwar demnächst.
Sie blendete die Zeitanzeige ein. Auf Terra sowie sämtlichen sonstigen Welten, Habitaten und Raumschiffen der LFT schrieb man den 15. November 1469 NGZ, 15:57 Uhr.
*
Die Vortragskünstler auf den diversen Bühnen beendeten ihre Darbietungen. Der Applaus verklang. Erwartungsvolle Stille senkte sich über den Dolan Memorial Park.
Um exakt 16 Uhr Ortszeit erlosch der Paratronschirm. Die seitlichen Zeltbahnen des Gnauplons wurden nach oben geschlagen, sodass man, erstmals seit seiner Errichtung, aus allen Richtungen freie Sicht ins Innere erhielt.
Niemand befand sich darin. Es gab auch keinerlei Einrichtungsgegenstände. Nur den Boden, transparent und spiegelglatt wie eine Eisfläche.
Nein, falsch: Bei genauerem Hinsehen erkannte Phaemonoe eine Feinstruktur, ein regelmäßiges Muster, als hätte man aus dünnen, gläsernen Dielen ein Parkett gelegt.
Unter der glasigen Schicht stieg aus unabschätzbarer Tiefe ein violettes Wogen und Wabern empor, wie Wolken, die an die Unterseite der Glasdielen stießen, zerrannen, nach unten abflossen, versanken, sich bald darauf wieder in der Tiefe
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