PR 2646 – Die Tage des Schattens
letzten Mal gezeigt haben.
Und warum sollten sie sich auch über den kalten, leeren, tödlichen Abgrund zwischen den Gestirnen bemühen? Wer hätte davon einen Vorteil, wer gewönne etwas dabei?
Sie brauchen euch genauso wenig wie ihr sie.
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Alles geht seinen Gang, tagaus, tagein im Jahreslauf. Ihr sät und erntet, legt Vorräte an und labt euch daran in den kalten, dunklen Wintermonaten.
Ihr begeht die Feste der Vermählung, der Vermehrung und der Vermessung. Ihr feiert das Einsetzen der Mannbarkeit ebenso frohgemut wie das erste Blutlassen der Mädchen.
Geht eine Krankheit um oder das Gespenst der Trübsinnigkeit, so wird der Schamane gerufen. Er wohnt eine Tagesreise entfernt, mitten im Wald. Seine einzige Gesellschaft sind blecherne Tiere, die er nach Belieben zum Leben erwecken und wieder versteinern kann.
Ganz allein wohnt der Schamane, und doch führt er manchmal lange Unterhaltungen mit Geistern oder Göttern, hitzige Debatten in deren fremden, für euch schlichte Dörfler unverständlichen Sprachen. Sehr mächtig ist der Schamane und doch so gütig, dass er sofort zu Hilfe eilt, wenn man ihn ruft.
Alle Krankheiten heilt er. Entweder sofort, oder er nimmt die Befallenen mit zu sich in die Einsiedelei und behandelt sie, bis das Fieber vergangen oder die Wunde verschorft ist.
Und sollte trotzdem einmal jemand sterben, haltet ihr eine Nacht lang Trauerwache – aber gleich am Tag darauf auch ein Gelage zu Ehren desjenigen, der seine Atome und Seelensäfte wieder in den ewigen Kreislauf aus Wachsen und Welken eingegliedert hat.
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Einmal im Jahr, wenn die Licht und Wärme spendenden Monde am Himmel das Zeichen des Alltieres bilden, begeht ihr die Tolldreisten Tage.
Alt und Jung verkleiden sich. Die Kostüme und Masken sind uralt. Sie werden innerhalb der Familien vererbt, vom Vater an den Sohn, von der Mutter an die Tochter weitergegeben, ebenso wie die speziellen Darstellungs- und Sprechweisen.
Jeder füllt seine Rolle mit Inbrunst aus, gemäß der Überlieferung. Da gibt es Gucko, den tollpatschigen Gnom, der mit unglaublichen Heldentaten prahlt und vorgibt, ein grandioser Zauberer zu sein. Dabei bringt er rein gar nichts zustande. Wo er auftaucht, verspotten ihn die Kinder und bewerfen ihn mit gelben Rüben, bis er jämmerlich heulend die Flucht ergreift.
Guckos einziger Freund ist der tobende Bullbold, ebenfalls ein notorischer Aufschneider und Quälgeist. Vor seiner zur Grimasse verzerrten Larve mit den stets zu Berge stehenden knallroten Haaren fürchten sich die Kleinen am meisten.
Der Bullbold schlägt immerfort Radau. Er stürmt von Haus zu Haus und brüllt wie verrückt. Für die Erwachsenen ist das sehr lustig, denn er tut, als hätte er die Macht, eine ganze Armee zu befehligen. In Wahrheit gehorcht ihm kein einziger Soldat. Ganz einfach, weil es keinen einzigen Soldaten gibt. Wer sollte Schmarotzer benötigen, die nichts leisten, außer mit Waffen herumzuspielen?
Dann gibt es noch Johnny Rottan, den Verführer. Das ist erst ein Kaliber! Der schlimmste Unruhestifter von allen, ein Heuchler und Schleimer durch und durch.
Rottan schleicht durchs Dorf, auf der Suche nach Einzelnen, die er abpassen und ins Unterholz verschleppen kann. Er fügt ihnen kein körperliches Leid zu, aber er überschüttet sie mit Einflüsterungen, die ihnen noch wochenlang den Schlaf rauben können. Hemmungslos sät er Zweifel. Die glorreiche Isolation der Sayterraner im Neuroversum verleumdet er als Irrweg. Eure ausgewogene, nachhaltige Lebensweise stellt er als Rückschritt, ja kulturellen Niedergang dar.
Zur Ausstattung des Rottan-Kostüms gehören kleine magische Geräte wie halbblinde Spiegel, in denen man allerlei seltsame Bilder sehen kann. Manche davon bewegen sich sogar. Dies wären Aufnahmen aus der Vergangenheit, beteuert Rottan. Sie würden zeigen, wie die Menschen früher gelebt hätten, was also die Sayterraner in ihrer Degeneration alles eingebüßt hätten.
Aber die matten, ruckeligen Darstellungen wirken eher wie Illustrationen der abendlichen Gruselgeschichten. Gigantische Gefängnistürme kann man da sehen; Schluchten, ja ganze Täler aus Stein; darüber einen Himmel voller riesenhafter, stählerner Raubvögel, Drachen und fliegender Kugelfische.
Zwischen den abscheulich übergroßen Gebäuden tummeln sich monströse Gestalten. Wesen mit Tierköpfen, gehörnte Dämonen, Ausgeburten der Hölle mit vier oder noch mehr Armen! Oder überhaupt Ungeheuer, die rein gar nichts
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