PR 2675 – Der Glanz der Stille
schläfrig und nestelte am Hosenbund. Gleich darauf legte sie Sarmotte den Faden in die Hand, drehte sich um und war eingeschlafen.
*
Sarmotte betrachtete den Faden. Er war sehr leicht, was bei einer Länge von acht oder neun Millimetern und einem Durchmesser von höchstens zwei Millimetern zunächst nicht verwundern mochte. Aber das, was Sarmotte hier spürte, grenzte an Gewichtlosigkeit, ja Flüchtigkeit. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn der Faden aus ihrer Hand aufgestiegen und davongeschwebt wäre.
»Licht!«, befahl sie. Der SERUN tauchte den Faden in einen kleinen Lichtkegel. Der Panfaktor hatte die Farbe von dunklem, aber durchsichtigem Honig. Sarmotte strich mit dem Zeigefinger der anderen Hand darüber. Die Sensorfelder des Handschuhs vermittelten ein Gefühl ungetrübter Glätte.
Sie hob die Hand und hielt sich den Panfaktor ans Auge. Der Faden wies etliche Einschlüsse auf. Inklusionen nannte man sie wohl bei Bernstein.
Sie wollte dem Visier eben den Befehl geben, sich auf diese Inklusionen scharf zu stellen, da geschah etwas – entweder mit dem Faden oder mit ihren Augen.
Die Einschlüsse wurden deutlicher. Nicht unbedingt größer, aber doch genauer sichtbar. Sarmotte erkannte nicht nur die Umrisse besser; sie entdeckte Strukturen und Zusammenhänge. Sie kniff die Augen zusammen, aber das war überflüssig. Ohne dass der Faden wuchs oder an Gewicht zunahm, erkannte sie mehr und mehr von den Einschlüssen.
Da waren künstliche Gebilde, Artefakte, Skulpturen, da waren möglicherweise Maschinen, winzig klein, aber doch offenbar perfekt. Nano-Toufec hätte seine Freude, dachte sie. Oder Pazuzu.
Aber sie war weit davon entfernt, Toufec zu rufen und dem Nano-Dschinn den Faden zu übergeben. Noch war er ihr Faden, noch wollte sie zuschauen.
Und ein Schauspiel war es allemal, wie sich da vor ihren Augen eine ganze Welt entfaltete: diese Ansammlung von Konstruktionen, Aggregaten und Apparaten, von Generatoren und Motoren eines im transparenten Gold eingeschlossenen Maschinenparks.
Keine der Maschinen war ihr irgendwie vertraut, und obwohl sie vor Funktionstüchtigkeit geradezu strahlten, gingen Sarmotte Sinn und Zweck der Gerätschaften nicht auf.
Warum eigentlich nicht? Sie hatte doch sonst ein geradezu intuitives Verständnis für alle Arten von Mechanik, für die ineinandergreifenden Räderwerke, die Choreografien der Maschinen.
Oder war sie einfach zu ungeduldig? Sie sah noch näher hin, und das Näherhinsehen bereitete ihr keine Mühe. Allmählich schälte sich heraus, in wessen Dienst die Maschinen stehen mochten: Sarmotte entdeckte Bauwerke, Posten und Stationen in diesen Ländern, die viel ausgedehnter waren, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte.
Die Bauwerke waren durch Straßen und Brücken verbunden – oder waren es vielmehr Tunnel, die den lichten, bersteinfarbenen Äther des Panfaktors durchquerten?
Wie geradlinig und klar und doch zugleich allumspannend diese Infrastruktur war, wie verlockend weit die Straßen in die Tiefe des Panfaktors führen mussten. Woher nahm der unscheinbare Faden diese förmlich unauslotbare räumliche Tiefe?
Folgte Sarmotte den größten Straßen, diesen breiten, gradlinigen Avenuen, tauchten am Horizont gewaltige Städte auf.
Sarmotte warf den einen oder anderen Blick auf die Bäume am Rand der Allee. Selbst die Bäume waren mittlerweile von einer geradezu erschreckenden Detailliertheit. Sarmotte gewahrte die vogelähnlichen Geschöpfe, die in den flammenartigen Kronen der Bäume saßen, sie entdeckte ihre Nester, Zweig für Zweig; sie staunte, wie gut sich jedes Nest zwischen die Äste fügte; sie betrachtete die Blätter, die aus den Ästen sprossen, und auf den Blättern die käferähnlichen Kreaturen, die von den Blättern fraßen, und auf dem glänzenden Rückenschild der Käfer winzige, spinnengleiche Parasiten, die einen Gang in den Chitinschild des Käfers bohrten und dort ihre Eier ablegten, und nicht einmal die Insassen dieser Eier blieben Sarmotte verborgen: leuchtend schöne, fünfäugige Embryonen mit gläsernem Saugrüssel, feingliedrigen Kopfzangen, zart segmentierten Beinen. Sie beobachtete die Tarsen am Ende der Beine, die wie Sensen gebogenen Klauenglieder am Ende der Tarsen, die Haftpolster zwischen den Klauen, die Drüsenpumpen, die das Polster von Geburt an mit einem Schmierfilm versehen sollten.
Sarmotte musste sich losreißen, ihren Blick abwenden von den Drüsenspitzen der Embryonen in den Leibern der
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