PR 2692 – Winters Ende
Visier.
»Ich bin verheiratet«, sagte Bully, lauter und barscher, als er beabsichtigt hatte. »Bitte um Respekt für meine Privatsphäre und die einer verdienstvollen Mitarbeiterin, die ihre parapsychischen Talente schon oft uneigennützig der terranischen Menschheit zur Verfügung gestellt hat. Muss ich deutlicher werden?«
»Unsere Seherinnen und Seher wären überaus begeistert, mehr über das Privatleben des biologisch unsterblichen Residenten ...«
»Ein letztes Mal im Guten: Lass mich und meine Begleiterin in Frieden, oder LAOTSE löscht deine Akkreditierung. Dieses Interview ist nicht autorisiert, kein einziges Wort davon. Schwirr einfach ab, okay?«
Schmollend trollte sich die Reporterin mitsamt den Kameradrohnen. Shanda Sarmotte atmete tief durch.
Bully legte ihr den Arm nicht um die Schultern. »Eklig, wie kleinlich Menschen sein können, selbst in solchen Momenten, nicht wahr?«
»Wen meinst du?«, fragte Shanda.
*
Um halb zwölf Uhr hatte der schwarze Ball, der die Sonne umhüllte, nur noch einen Durchmesser von rund zwei Millionen Kilometern.
Shanda Sarmotte versteifte sich. »Verflixt«, sagte sie.
»Was ist?«
»Die Folie wird durchlässig.«
»Du musst nicht ...«
»Und du musst mich nicht schonen. Ich bin ebenso erwachsen wie du.«
Oho, dachte Bully.
Die junge Mutantin fischte sich einen Sessel und ließ sich darauf nieder. »LAOTSE, überwachst du bitte meine Lebensfunktionen?«
»Selbstverständlich. Darf ich dir vorsorglich ein gepuffertes Vitamin-C-Depot injizieren lassen? Meine Sensoren stellen einen leichten Ernährungsmangel fest.«
»Von mir aus.«
Ein Servo schwebte zu ihr, fuhr einen Tentakel aus und verabreichte zischend eine Injektion. Oben im Holopanorama klarte die Wolkendecke auf und gab ein rötlich düsteres Firmament frei.
»Reg?«
»Hier bei der Arbeit.«
»Das tu ich für dich.« Shandas Körper erschlaffte. »Und für Terra.«
Bully ging zwischen den Sitzreihen auf und ab. Nur zu gut wusste er, was sie auf sich nahm.
*
Beim Versuch, in die Sonnenwelt der Spenta vorzudringen, deren Gedanken zu erhaschen und Aktivitäten aufzunehmen, würde Shanda auf hyperphysikalische Effekte stoßen, die sogar die mit der fünften und sechsten Dimension ohnehin häufig verbundenen sonderbaren Phänomene weit übertrafen.
Unabhängig von der Detailstruktur von Hyperfeldern im weitesten Sinn traten »Nebenwirkungen« auf, die sich im vierdimensionalen Standarduniversum als Zeit-, Raum-, Masse- und Energieanomalien äußerten – weil Randkomponenten des Hyperfelds durch die Gradientwirkung in Abhängigkeit von der Hyperfeldstärke wirksam wurden.
Nicht selten wiesen sie Ähnlichkeiten mit Phänomenen wie relativistischer Massenzu- oder Abnahme, Längenkontraktion und Zeitdilatation, also subjektiven Beschleunigungen wie auch Verlangsamungen auf. Oft glichen sie auch Momenten der Entrückung in Richtung Hyperraumniveau in Verbindung mit Teilentstofflichungen.
Bully hasste sich dafür, dass er Shanda in diesen Augenblicken nicht beistehen konnte. Die Ephemere – wörtlich: flüchtige, vergängliche – Materie der Spenta integrierte hyperphysikalische Komponenten von fünf-, in Spuren sogar sechsdimensionalen Energien.
An Bord der Nagelschiffe befanden sich wahrscheinlich vorgefertigte Maschinen, Proto-Maschinen, die innerhalb einer Sonne mit Energie angereichert wurden, bis sie einsatzbereit waren. Von da an unterstützten sie den Traumverdauungsprozess der Spenta und hoben ihn in eine industrielle Größenordnung.
Vor der Anhebung des Hyperphysikalischen Widerstands hatten auch die Terraner und etliche andere Milchstraßenvölker Formenergie sowie stabile Materieprojektionen erzeugen können: in beliebige pseudomaterielle Objekte umgewandelte Energie, die bei purem Augenschein nahezu keine Unterschiede zu solchen von festmaterieller Natur erkennen ließ.
Geeignete Mittel und Musterprogramme vorausgesetzt, ließ sich künstlich eine entsprechende hyperenergetisch konfigurierte Matrix herstellen. Wurde hierbei, hypermathematisch betrachtet, die dritte reale Ableitung der Hyperfunktion im raumzeitlichen Kontinuum materiell, war das Ergebnis ebenfalls Materie. Die auf die Phänomene des Standarduniversums geeichten biologischen Sinne nahmen sie als stofflich stabil wahr. Tatsächlich handelte es sich aber um Projektionen, die beliebig verschoben, aufgelöst, neu gestaltet oder umgruppiert werden konnten, auf makroskopischer wie mikroskopischer
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