PR 2701 – Unter der Technokruste
Wissenschaftler und Techniker gaben nicht auf, die Politiker ebenso wenig. Natürlich nicht. Sie haben ja auch recht damit. Wir haben recht damit.
Warum schreibe ich ausgerechnet über diese Zeit? 26 Jahre im Schacht müssten doch eigentlich so gut sein wie 25 und 27 auch. Stimmt. Aber in diesem sechsundzwanzigsten Jahr änderte sich alles von Grund auf. Deshalb denke ich jetzt wieder über diesen Zeitpunkt nach, um darüber in meinem Tagebuch zu schreiben.
Es gab nur zwei große Themen, über die jeder ständig und überall redete.
Zum einen das Seil-Projekt, wie es in den Medien genannt wurde. Es besagte im Grunde genommen nichts anderes, als dass die Wissenschaftler eine Korvette umbauten, mit Messgeräten jeglicher Art vollstopften und ein Spezialseil daran befestigten.
Das Seil bestand aus hochwertigen Ultraleicht-Keramik-Faserverbundstrukturen und war 200.000 Kilometer lang. Das sorgte für eine Menge Aufregung unter der Bevölkerung. Manche hielten es wohl für einen Scherz: 200.000 Kilometer!
Aber es war kein Scherz. Alles andere als das. Es kostete Unsummen, als Bürgermeister von Luna City habe ich in den letzten Tagen diverse Kostenvoranschläge und Abrechnungen gesehen. Und es war die perfekte Lösung, um Daten bis zum Schluss zu erhalten – bis zu dem Moment, in dem auch diese Korvette im Schacht verschwinden würde, woran ehrlich gesagt niemand zweifelte.
Und vielleicht, das war die vage Hoffnung, gab es sogar noch länger eine Datenübertragung.
Denn genau das war der Clou an der Sache: Das Seil würde ständig mit einer Bodenstation auf Luna verbunden bleiben, und unablässig sollte es Informationen übermitteln, während die Korvette langsam weiter in den Schacht vordrang.
Ein guter Plan.
Die Länge der sagenhaften 200.000 Kilometer war deshalb festgelegt worden, weil sie einerseits die maximal zu verwirklichende Länge darstellte mit den Mitteln, die Luna bot. Und weil andererseits der Schacht den bisherigen Erkenntnissen nach vermutlich einen Durchmesser von 400.000 Kilometern aufwies, mit uns in der Mitte.
Das war die gute Sache in diesen Tagen: Man schöpfte wieder Hoffnung.
Die schlechte Entwicklung beschäftigte die Gemüter aber noch viel mehr. Denn die ultimative Katastrophe bahnte sich an, und mit einem Mal drängte die Zeit.
Beben hat es auf Luna schon immer gegeben. Seit die Menschheit Messungen anstellt, bebt es in unserer Heimat durchschnittlich 3000-mal im Jahr. Meist handelt es sich um kleinere Ereignisse, nicht um Katastrophen; ein ganz natürlicher Vorgang. So bauen sich die inneren Spannungen des Mondes ab, und die Zentren sind begrenzt auf insgesamt etwa einhundert Stellen, an denen es stets aufs Neue geschieht. Also klar umgrenzte, bekannte Gebiete. Man kann damit umgehen.
Das galt jedoch in jenem Jahr 1496 NGZ nicht mehr. Alles war schlimmer geworden: die Stärke der Beben ebenso wie die Häufigkeit, und es konnte überall auftreten, an jedem Ort. Selbst in den Städten. Man zählte bereits 50 oder 60 Beben an jedem einzelnen Tag. Etwa 15.000 im Jahr, mit zunehmender Intensität.
Dennoch war es nicht absolut katastrophal.
Noch nicht.
NATHAN hatte allerdings berechnet, dass es erheblich schlimmer kommen musste. Es lag wohl an der nicht enden wollenden Passage, an den tobenden Hyperkräften im Schacht. Genaueres fanden weder NATHAN noch die Heere von Wissenschaftlern heraus, die sich damit beschäftigten.
Nur eins war klar: Wenn die Entwicklung anhielt und sich linear fortsetzte, würde es Luna spätestens im Jahr 1525 NGZ vollständig zerreißen.
Diese Schreckensnachricht sickerte immer deutlicher ins Bewusstsein der Bevölkerung. So schöpften alle einerseits Hoffnung und fürchteten sich andererseits vor der bevorstehenden Apokalypse. Jeder Einzelne hasste den Schacht, dieses namenlose, ungreifbare Böse, das uns allen den Tod zu bringen drohte.
Aber ich habe nun genug geschrieben. So war das, damals, als sich alles änderte.
Vielleicht kann Pri, wenn sie einmal erwachsen ist, nun besser verstehen, was es damals für uns bedeutete, als die Wende ihren Anfang nahm. Aber es wurde nicht alles anders wegen des Seil-Projekts oder wegen der Mondbeben.
Sondern weil am 23. April 1496 NGZ geschah, womit niemand gerechnet hatte.
Wir waren nicht allein.
Etwas näherte sich plötzlich nach diesen 24 Jahren aus den Tiefen des Schachts. Ein aus sich selbst heraus tiefrot leuchtendes Raumschiff.
6.
Der Pyzhurg und die Jagd
19. Juni 1514 NGZ
In dem Raum vor ihm
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