PR 2707 – Messingträumer
sein Denken unendlich verzögert, ja gelähmt hatte.
Aber dann wurde es besser.
Er öffnete die Augen und sah sich um. Er lag auf einem schmalen Bett in einer schmucklosen Kammer. Er war nackt. Neben dem Bett stand ein Stuhl. Auf dem Stuhl lagen Kleidungsstücke bereit: Unterwäsche, eine Hose, ein blau kariertes Hemd.
Auf einem Tisch stand ein brauner, irdener Krug, daneben ein hohes, durchsichtiges Glas.
Rhodan richtete sich auf und kleidete sich an. Er knöpfte das Hemd zu.
Das also ist die gepriesene Welt der Messingträumer, dachte Rhodan. Ein Einzimmerapartment im Nirgendwo.
Er setzte sich auf die Pritsche, wartete, stand auf. Keine Tür zu sehen. Er klopfte die Wände ab. Sie klangen massiv. Er ging zum Tisch, um sich ein Glas Wasser einzuschenken.
Er warf einen Blick in den Krug. Das Wasser darin war abgrundtief. Langsam pulsierende blutrote Kreaturen glotzten ihn aus der Tiefe an wie lose treibende Herzen, durch komplizierte Korallenarchitekturen glitten Imperator-Kaiserfische mit hellgelb-blau gestreiften Zeichnungen und phosphoreszierenden Flossen; wie aus unendlicher Ferne tönte aus dem Abyssus ein klagender Walgesang.
Schon besser, dachte Rhodan.
Aus den Tiefen des Wassers schwamm ein zierliches Wesen Richtung Oberfläche; die lange Schwanzflosse smaragdgrün; der weibliche Oberkörper wohlgeformt und nackt, das lange Haar leuchtete smaragdgrün. Die Nixe nahm mit einer delfingleichen Bewegung Schwung und saß gleich darauf auf dem Rand des Krugs. Ihr rot geschminkter Mund lachte.
»Hallo«, grüßte sie.
Rhodan nickte ihr zu. Der Traum wurde allmählich interessanter.
»Alles okay bei dir?«, fragte die Nixe.
»Ich kann nicht klagen«, sagte Rhodan. »Ich habe eben einen ziemlich unterhaltsamen Traum.«
»Träume«, sagte die Nixe, »sind Meerschaum und Hai-Kack.«
»Hai-Kack?«
»Die Stoffwechselendprodukte von räuberisch lebenden Knorpelfischen«, erklärte ihm die Nixe geduldig. »Bist du schon einmal von einem Hai gefressen worden?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Manche meinen nämlich, dass von einem Hai gefressen zu werden eine unangenehme Erfahrung sei. Aber ich sage dir, Bruder, dass man nach dem Gefressenwordensein auch noch verdaut wird und anschließend seinen Weg durch den Gastrointestinaltrakt und so weiter ... Wir verstehen uns?«
Rhodan nickte.
» Das «, sagte die Nixe, »kann weit, weit traumatischere Folgen zeitigen. Warum kommst du eigentlich nicht ins Wasser? Du Schöner? Du Schamhafter?«
»Ins Wasser?« Er warf einen Blick in den Krug. »Sollte ich?«
Sie klimperte mit ihren überraschend langen Wimpern. »Schätzchen, wenn du die Dame deines Herzens immer erst fragst: Sollte ich, sollte ich?, wirst du nie an die Milchtüten der Natur kommen, wenn du mir folgen kannst.«
»Ich gebe mir alle Mühe. Ich weiß nur nicht, welche Hintergedanken du dabei hast, mich ins Wasser einzuladen. Immerhin bist du doch eine Nixe, oder? Eine Sirene?«
»Ob ich ...? Aber ja, tausendmal ja! Eine Nixe, eine Nymphe, Wasserbachantin, auch Meerweib geheißen und Zutüdlerin oder Melpomenens Töchter, von oben Weib und unten Fischgerippe. – Also, was ist jetzt? Kommst du ins Wasser?«
»Nein«, sagte Rhodan. »Ich bin auf der Suche nach einem ... hm ... bestimmten Mitträumer.«
Die Nixe musterte ihn. »Wir alle träumen. Dies ist ein Gemeinschaftstraum. Du erträumst mich, ich erträume dich.«
»Was ich bezweifeln möchte.«
Sie seufzte äußerst melodisch und plätscherte träge mit ihrem Schwanz im Wasser. »Wen suchst du denn?«
»Ein Plasmahirn«, sagte Rhodan.
»Oh«, sagte die Nixe. »Unseren großen Träumer. Was willst du von ihm?«
»Ich will ihn wecken.«
»Ups«, sagte die Nixe. »Dann bist du ein Dieb?«
»So würde ich das nicht bezeichnen.«
»So würde ich das doch bezeichnen«, sagte die Nixe. Sie seufzte wieder. »Aber zufällig habe ich eine Schwäche für schöne Verbrecher. Ist das nicht ein seltsamer Zufall?«
»Kannst du mich zu ihm führen?«
»Aber ja! Der Weg führt geradewegs durch meinen Gastrointestinaltrakt.«
»Ist nicht dein Ernst.«
»Ist nicht mein Ernst. Leider.« Sie ließ sich vom Rand des Gefäßes ins Wasser gleiten und winkte ihm mit dem Fischschwanz.
Rhodan beugte sich über den Krug und stürzte kopfüber hinein.
*
Gewaltige Rochen aus singendem Glas querten seinen Weg; wunderlich sanfte Schneckentiere schlugen mit Schwingen, zart geädert und mit hypnotisierenden Zeichnungen versehen wie Schmetterlingsflügel
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