PR Lemuria 02 - Der Schläfer der Zeiten
seiner Entscheidung, die OVIR zu landen, lag einige Zehntage zurück, aber erst jetzt fühlte er sich endgültig frei. Mit jedem Schluck strömte neue Energie in seinen Körper. Der Rechner schaltete den Dialogbildschirm ab. Der Raum sank wieder ins metallische Halbdunkel zurück.
Nutai setzte sich an seine Arbeitsplatte, schaltete Monitore ein und arbeitete einige Stunden lang an den hereinströmenden Ortungsdaten des Planetensystems. Er wartete vergeblich auf einen Notruf der Halbleukor-Verfolger.
Dann, mit einer Plötzlichkeit, die ihn fast erschreckte, dachte er an Chibis-Nydele und daran, dass es zwischen einigen Peripheriegeräten der Gespinst-Knotenrechner, den Steuerungen der Fangfelder und den Lemurern, denen die Parafähigkeit nicht hinweg mutiert worden war, klar definierte Verbindungen gab. Hatte es einen auslösenden Impuls gegeben, der die drei Muties verrückt werden ließ? Warum er bezweifelte, dieses Rätsel lösen zu können, wusste er selbst nicht.
Er verließ die Kommandobrücke mit ihrer von Instrumenten, Lichtanzeigen, Schaltern und Diagrammen übersäten Bogendecke, stieg in den Aufzug und fuhr fünf Sekunden lang zu seinen Privaträumen hinauf. Schon am Eingang empfingen ihn die Ausstrahlungen einer anderen Welt. Das Licht war amberfarben, in der Luft schmeckte er Blütenduft und Chibis-Nydeles unverkennbaren Hautbalsam, und alles war überlagert von leiser Musik und dem Geruch jenes mehrfach vergorenen und angereicherten Mineralpflanzensuds, den Chibis beschönigend Lemuriawein nannte.
Sie spürte ihn, ehe er sie sah. In einem halb durchscheinenden, bodenlangen Gewand kam sie aus dem Schlafbereich und legte die
Hände auf seine Schultern.
»Du vertraust dem Schiff und dem Gespinst mehr als mir«, sagte sie und lächelte, »denn sonst würdest du deinen Sitz nicht verlassen, dein gewohntes Heim.«
»Nicht dem Gespinst. Es ist alles gesagt und getan«, antwortete er ruhig und warf einen langen Blick auf das Bildnis an der Wand des Verbindungskorridors. Es zeigte die Hand eines Malers und dessen Werkzeug, der einen Bildhauer portraitierte, der seinerseits mit Lasermeißeln eine schwarze Skulptur aus einem runden Block obsi-dian-farbenen Kunststeins heraus fräste. Sie zeigte ein Wesen auf Säulenbeinen, mit vier muskelstarrenden Armen und einem halb kugeligen Kopf mit drei rot glühenden Augen und einem weit klaffenden Gebiss. Das Bild und dessen Aussage erinnerte Atubur Nutai an Dialoge seiner Halbträume, die er in ferner Vergangenheit geführt zu haben glaubte.
»Jetzt läuft es fast ohne mein Zutun ab. Nach zweiundvierzig Tagen landen die Fähren auf dem Planeten.«
»Auf Mentack Nutai, unser aller Schicksal.«
Chibis-Nydeles Finger spielten auffordernd mit dem rot blinkenden Schmuckstück, das seinen Aktivator umhüllte. Das schwache Energiefeld pulsierte in langsamem Takt. Nutai las in ihrer Miene, was sie dachte: Kein Grund zur Beunruhigung, denn erst in rund sieben Jahren würde sich die Frequenz erhöhen.
»Ich habe schon so lange gelebt«, sagte Nutai. »Mein Schicksal wird sich beim Flug zum fünften Planeten erfüllen oder auf dieser unbekannten Welt. Wie auch immer. So oder so.«
Er strich über die winzigen Schuppen der Sichelkämme, die von ihrem Stirnansatz zum Nacken führten und im bernsteinfarbenen Licht zu glimmen schienen.
»Ich habe nie einen deiner Entschlüsse in Frage gestellt.«
»Nein. Nicht während der letzten Generationenwechsel.«
»Ich kenne auch nicht das Geheimnis dieses seltsamen Geräts und deiner scheinbaren Unsterblichkeit.«
Nydele hatte nur einen seiner Persönlichkeitswechsel miterlebt. Nach 20 Jahren als Kommandant war er spurlos verschwunden. Kurze Zeit später erschien er wieder und fand Chibis-Nydele, die in seinen Kabinen gewartet hatte. Schön, hingebungsvoll und schwei-gend wurde sie wieder sein alleiniger Besitz; er wirkte wie ein jüngerer Bruder des alten Naahk. Es war Nutai mitunter, als gelte ihre Loyalität mehr dem Schiff als deren Kommandanten. Sie glaubte daran, dass allein der Weg des Ringschiffs das Ziel war, und reifte an der Seite des neuen, verjüngten oder vom Schiff im Geheimen gezüchteten Kommandanten abermals um 20 Jahre.
»Es wird irgendwann keine Geheimnisse mehr geben.« Nutai legte den Arm um Chibis-Nydeles Hüften und zog sie ins Dämmerlicht des Schlafraums. »Bevor ich den Landeanflug entwickle, haben wir noch ein wenig Zeit für uns selbst.«
Wenn sie überrascht war, zeigte sie es ihm nicht. Sie
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