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PR Lemuria 03 - Exodus der Generationen

PR Lemuria 03 - Exodus der Generationen

Titel: PR Lemuria 03 - Exodus der Generationen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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darauf, Chronist zu sein.«
    »Sehr. Und du?« Deshan zeigte auf das Symbol an Miras Schulter.
    »Wenn du wissen möchtest, ob ich stolz bin... Nein, nicht in dem Sinne. Eher zufrieden. Ich bin immer gut mit Zephalonen zurechtgekommen; die Arbeit mit ihnen macht mir Spaß. Es ist ein Beruf für mich, keine Berufung wie bei dir.«
    Sie wandten sich der schmalen Treppe neben der bemalten Felswand zu und stiegen empor, brachten eine ausgetretene Stufe nach der anderen hinter sich. Deshan versuchte, sie zu zählen, gab aber schließlich auf und lauschte der Stille um sie herum, nur gestört vom Geräusch ihrer Schritte. Nach einer Weile kam erstes Licht von oben und drängte die Schatten zurück. Angenehme Wärme ersetzte die Kühle der Katakomben, des »Saals der Seelen«, wie man sie auch nannte, und Sonnenschein empfing sie im Innenhof der Bastion Tuamar. Der graue Granit eines wuchtigen Bollwerks ragte um sie herum auf, Ausdruck des lemurischen Willens, auf keinen Fall aufzugeben, allen Gefahren zu trotzen. Sie verharrten kurz, um wieder zu Atem zu kommen, und stiegen dann eine weitere Treppe hoch, die zu einer der Verteidigungsterrassen führte. Von hier aus hatten sie einen prächtigen Blick auf den großen türkisfarbenen See im Tal der Stille, mit den tempelartigen Bauten des Zentrums mnemonischer Beschaulichkeit an seinem südlichen Ufer. Dort, nach Süden hin, öffnete sich das schmale, im Westen und Osten von hohen Bergen eingefasste Tal, und unten in der Ebene, halb im Dunst verbergen, lag Marroar.
    »Die Stadt sieht aus wie Schnee«, sagte Mira.
    Deshan dachte an die gewaltigen Gletscher, die weite Teil der Nord- und Südhalbkugel bedeckten. Wir sind privilegiert, dachte er.
    »Zum Glück haben wir es warm genug«, erwiderte er und glaubte zu spüren, wie sich der Augenblick dehnte und Perfektion gewann. Er fühlte eine Ruhe, wie er sie sonst nur in der Meditation fand, einen profunden, unerschütterlichen Frieden. »Wie viele?«
    »Wie viele was?«
    »Wie viele Kinder werden wir haben?«
    Mira lachte leise und schlang den Arm um Deshans Taille.
    »Zehn?« »Mindestens.« Und so standen sie da, vereint in einem perfekten Moment, begleitet von Stille und Frieden.
    Halb versunken in kognitiver Trance ging Deshan Apian langsam über die Empore, auf halbem Wege zwischen Boden und Decke des großen Meditationsraums. Andere Chronisten kamen ihm entgegen, junge Männer und Frauen, individuell gekleidet, fast alle von ihnen mit dem einen oder anderen Verdienstsymbol ausgestattet. Als sie ihn passierten, sprachen sie Worte, so wie auch er Worte sprach. Das durch die hohen ovalen Fenster fallende Licht malte wechselnde Muster auf den alten Fliesenboden. Weitere Chronisten saßen dort, auf Bänken und in Gruppen, und manche von ihnen lasen halblaut aus alten Büchern.
    Deshan öffnete sein Selbst allen Eindrücken, damit es wie ein Schwamm wurde, der Wissen wie Wasser aufnahm. Er verdrängte innere Bilder, die ihm immer wieder Mira zeigen wollten, die ihn besucht hatte und inzwischen auf dem Rückweg nach Marroar war, und besann sich auf die mnemotechnischen Methoden, mit denen er sich während der vergangenen vier Wochen auseinandergesetzt hatte. Jedes Detail prägte er sich ein: das Spiel von Licht und Schatten unten auf dem Boden, das Geräusch der Schritte jener Personen, die ihm entgegenkamen und sich entfernten, ihre Kleidung, ihr Bewegungsmuster, das Mienenspiel, während sie die Worte sprachen, die Chronisten unten im Saal, die kamen und gingen, Gerüche, das Gefühl des Augenblicks. Während er wanderte, zwei oder drei Stunden lang, verarbeitete er all diese Dinge zu einer Textur des Geschehens, zu einer Art mentalen Tapisserie, deren Muster ein Bild erlebter Wirklichkeit zeigten.
    Später, im Büro des Kuratoriums, trat Deshan dem fast hundert Jahren alten Ersten Kuraten Dauzart gegenüber. Abgesehen von den Wimpern wuchs kein einziges Haar an Dauzarts Kopf, und die wässrigen Augen über den hohlen Wangen lagen tief in den Höhlen. Aber ihr Blick hatte eine Tiefe, die Deshan immer wieder beeindruckte.
    »Schildere mir deine Wahrnehmungen«, sagte Dauzart.
    Deshan beschrieb sie, orientierte sich dabei mithilfe des geistigen Bilds.
    Zehn Minuten später beendete er seinen Bericht, davon überzeugt, nicht ein einziges Detail ausgelassen zu haben.
    Dauzart nahm mit einem leisen Ächzen hinter seinem Schreibtisch Platz und musterte den jungen Chronisten mit einer Aufmerksamkeit, der nichts entging.
    »Die

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