PR Lemuria 03 - Exodus der Generationen
siebenundzwanzigste Person, der du in der zweiten Stunde begegnet bist - welches Wort richtete sie an dich?«
»Diga«, antwortete Deshan sofort.
»Nein«, widersprach der Kurat. »Es lautete >Mira<.«
Deshan hob verblüfft die Brauen.
»Du hast versucht, alles Persönliche zu verdrängen, und dieses Bemühen hat einen Filter vor deine Wahrnehmungen geschoben.«
»Ich bedauere den Fehler.«
»Fehler sind dazu da, aus ihnen zu lernen. Du hast ausgezeichnete Fortschritte gemacht, Deshan. Ich bin sehr stolz auf dich. Aber vermeide es, dich von persönlichen Dingen beeinflussen zu lassen, auf die eine oder andere Weise. Was geschieht, geschieht, ganz gleich, welche Haltung wir dazu einnehmen.«
Deshan Apian senkte den Kopf. Als er ihn wieder hob, kam Dauzart hinter dem Schreibtisch hervor, in der rechten Hand ein Verdienstsymbol, das er dem an Deshans Kragen hinzufügte.
Der junge Chronist blinzelte verwirrt. »Aber ich habe einen Fehler gemacht!«
»Ja, nur einen«, erwiderte der Kurat. »Du bist unser bester Schüler.« Er deutete zur Tür. »Ein Besucher wartet auf dich.«
»Mira wollte nach Marroar zurückkehren. Sie... «
»Jemand anders«, sagte Dauzart.
Es war ein Mann, und er stand am breiten Fenster des für Gäste bestimmten Salons, kehrte Deshan den Rücken zu, während er hinausblickte auf den See. Apsu war bereits hinter den Bergen verschwunden, und die länger werdenden Schatten der Gipfel krochen über das türkisfarbene Wasser. Hoch aufgerichtet stand er da, die Schultern straff, und obwohl Deshan ihn nur von hinten sah, fühlte er etwas in seinem Innern berührt.
»Ein ruhiger Ort für die Besinnung auf das Wesentliche«, sagte der Besucher.
»Levian Paronn?«, fragte Deshan und trat näher.
Der Mann drehte sich um. »Du hast ein gutes Gedächtnis. Aber wie könnte es auch anders sein, als Chronist?«
Paronn sah genauso aus wie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Aussichtsturm, trug das volle schwarze Haar noch immer glatt zurückgekämmt. Aber in seinem allgemeinen Gebaren gab es eine Veränderung, die Deshan sofort bemerkte. Dieser Levian Paronn wirkte nicht mehr verwirrt und unsicher, sondern sehr selbstbewusst, wie jemand, der seinen Platz in der Welt gefunden hatte.
Die grauen Augen unter den buschigen Brauen... Das Feuer, das Deshan vor zwei Jahren in ihnen gesehen hatte, brannte dort noch immer, vielleicht mit einer noch größeren Intensität.
»Du giltst als einer der vielversprechendsten jungen Chronisten«, sagte Paronn, und Deshan glaubte plötzlich, sich selbst zu sehen, sein Spiegelbild in den grauen Augen, die ihn musterten: das Haar nicht schwarz, sondern aschblond und vielleicht ein wenig zu struppig, die Augen graugrün, die Nase gerade, das Gesicht schmal und ausdrucksvoll.
»Hast du dich über mich informiert?«
»Ich habe deinen Werdegang mit großem Interesse verfolgt. Ich weiß, dass du bald den Partnerschaftsbund mit Mira Lemroth schließen wirst, und ich möchte dir etwas anbieten, das deiner Zukunft Sicherheit gibt.«
»Was?«
»Einen Hauptkontrakt. Werde mein Chronist und berichte darüber, wie ich Lemurs Kinder zu den Sternen bringe.«
Alahandra
Sie hieß Alahandra und wusste, dass sie nur Teil dieses Namens war, besser gesagt: Der Name beschrieb nur einen Teil von ihr. Alahandra, so hießen sie beide, das Mädchen und die Frau, das Kind und die Erwachsene. Und auch diese Worte wurden dem ganzen Ausmaß ihrer besonderen Realität nicht gerecht, denn Alahandra war weder ein Mädchen noch eine Frau, weder kindlich noch erwachsen. Aber in einem Kondensat dieser tatsächlich existierenden, größeren Realität gab es Raum für eine Beziehung, die sich mit der von Mutter und Tochter vergleichen ließ.
Die kleinere Alahandra, das »Kind«, hatte das dunkle Kastell erneut verlassen, obwohl sie wusste, was sie draußen erwartete. Trotzdem war sie aufgebrochen, angetrieben von einer Unruhe, die aus dem Damals kam, aus dem Vorher. So viel stand fest: Sie war nicht immer Teil Alahandras gewesen. Irgendwann einmal hatte sie wahrhaft grenzenlose Freiheit genossen, und in diesem Zusammenhang erinnerte sie sich an ein Gefühl des Schwebens und Flie-gens. Danach sehnte sie sich zurück, aber sie hatte keine Flügel, um aufzusteigen und das Kastell endgültig hinter sich zurückzulassen. Sie hatte nur zwei dünne Beine, die sie durch den Nebel trugen, der die dunklen Mauern umschloss und alle Geräusche aufzusaugen schien. Und obwohl sie wusste, was sie erwartete,
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