PR Lemuria 04 - Der erste Unsterbliche
dahin.
Das klare Fieber, die Bestie, und noch eine folgenschwere Begegnung
In einem sollten sich die Ratschläge von Boryks Vätern bewahrheiten: Je höher er stieg, desto unbeschwerter kam er voran. Er bildete sich sogar ein, weniger zu wiegen. Oder handelte es sich dabei um erste Anzeichen von Delirium, Vorboten der Höhenkrankheit?
Leichter oder nicht, es war auch so noch kräftezehrend und schweißtreibend genug. Immer wieder versperrten Erdwächten von abgegangenen Muren den Pfad, erzwangen Umwege durch gefährliches Terrain. Boryk kletterte über hausgroße, wackelige Felsblöcke, an deren Zacken er sich die Handflächen und Fußsohlen aufschürfte. Eine Geröllhalde geriet unter ihm ins Rutschen; die Steinlawine hätte ihn ums Haar mit in die Tiefe gerissen. Jede Bewegung schmerzte, und Hunger und Durst wurden auch nicht weniger.
Kurz vor Tagesanbruch, in der dunkelsten Stunde, als die Monde bereits im Meer versunken waren, die Sonne aber noch nicht aufgetaucht, hatte er den ersten Vorgipfel der Vulkankette erklommen und überschritten. Erschöpft taumelte er in eine Mulde wenige Meter unterhalb des Grats, wo er sich kurz ausruhen wollte - und prallte zurück, weil er auf einen weichen Körper getreten war.
Boryks Schrei weckte Gujnar endgültig. »Was zum - 29ach, du bist's. Kannst du nicht aufpassen, wo du hinlatschst, Trottel?«
Nun schob auch Rautsh den Kopf unter der dicken Plane hervor, mit der die beiden zugedeckt gewesen waren. »Leg dich von mir aus zu uns, Kleiner«, brummte er, »aber dann halt die Klappe und lass mich weiterschlafen.«
Boryk war versucht, die Einladung anzunehmen. Er hockte sich hin, wollte schon die müden Beine ausstrecken, doch irgendetwas irritierte ihn. »Ich hatte gedacht, ihr wärt schon längst über alle Ber-ge«, sagte er leise zu Gujnar.
»Spinnst du? Hier ist Endstation.«
Er glaubte, sich verhört zu haben. »Wie...Endstation?«
»Sag mal, bist du so dämlich, oder tust du nur so? Wir warten gemütlich zwei Tage ab, dann kraxeln wir wieder hinunter.«
Boryk starrte seinen Krippbruder völlig fassungslos an. »Aber... »
»Ruhe jetzt!«, knurrte Rautsh unter der Plane hervor.
»Du hast's gehört«, flüsterte Gujnar. »Na komm, sei einmal in deinem Leben vernünftig. Ich gebe dir auch von unseren Vorräten ab. Wir haben genug Wasser und Süßriegel für drei.«
Boryk schwirrte der Schädel. Das sollte es gewesen sein? Eine Bergwanderung und ein Picknick?
»Nein. Das...das geht nicht.«
»Klar geht das. Unser Onkel und seine Freunde haben es voriges Jahr genauso gemacht. Und sie waren bei weitem nicht die Ersten.«
»Aber...aber sie haben erzählt, dass sie in den Himmel hinauf- und in die Hölle hinabgestiegen sind. Dass sie mit den Jenseitigen gekämpft haben, und ihnen die hübschesten Mädchen geraubt und mit diesen viele Stunden lang...du weißt schon.«
»Nu - dann werden wir das eben auch erzählen, Dummerchen. Wer will uns hindern? Solange wir uns gegenseitig decken, kann uns kein Mensch das Gegenteil beweisen.«
Boryk war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Mannwerdung, die Heilige Queste, das große Abenteuer -nur ein Bluff, eine gigantische Lüge, gestrickt aus Kameraderie und Prahlerei?
Nein. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Fosse damals ebenfalls geschummelt und geschwindelt hatte. Der Dicke war öfters einmal betüdelt, und sein Phlegma grenzte an Faulheit. Aber er hatte Boryk immer die Wahrheit gesagt. Immer.
Obwohl: Durfte er sich da wirklich so sicher sein? Erwachsene sahen Kinder nicht als vollwertig an, und ihn sowieso nicht.
»Egal. Es ist...nicht richtig. Ich meine, in der Heiligen Folie steht...«
»Mir reicht's!« Rautsh schlug die Plane zurück und sprang auf. »Schluss mit dem sinnlosen Geschwafel. Du hast keine Wahl, kleiner Trottel, begreif das endlich! Entweder du machst mit, oder ich prügle dich windelweich und werfe dich danach eigenhändig in die tiefste Schlucht, die ich finden kann. Ist das klar?«
Boryk antwortete nicht. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Er brachte keinen Laut hervor.
»Ob das klar ist!«
Die Zwillinge, um einen guten Kopf größer als Boryk, bauten sich drohend vor ihm auf. In Gujnars Blick lag Mitleid, doch es stand außer Frage, dass er sich im Zweifelsfall nicht gegen seinen Bruder stellen würde. Rautsh bebte vor Zorn. Er bückte sich und hob einen großen Stein auf. Das Blitzen seiner Augen unterstrich, dass er die Drohung ernst meinte.
Tödlich
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