PR Lemuria 04 - Der erste Unsterbliche
setzen. Und auch du liebäugelst insgeheim mit diesem Gedanken, nicht wahr? Du wolltest schon längst alles hinschmeißen, warst nur zu feig und lasch. Dabei sehnst du dich so sehr danach, nicht länger zu leiden, wünschst dir nichts mehr, als endlich in Frieden ruhen zu dürfen. Die Stimmen ein für alle Mal zum Verstummen zu bringen, die unaufhörlich in dir schreien: Mörderin, Mörderin, siebzehntausendfache Mörderin!«
Gurgelnde, röchelnde, undefinierbare Laute entwanden sich dem Mund der Riesin. Sie schüttelte wild den Kopf. Tröpfchen stoben wie winzige Murmeln davon.
Boryk wurde auf einmal in Richtung des Sofas gezogen, hin zu ihr, weg von dem Sarg. Erleichtert ließ er gleichwohl nicht nach, sondern verstärkte seine Bemühungen noch. Auge in Auge rangen sie. Mitten ins Gesicht schleuderte er ihr seine Worte, unerbittlich einfühlsam: »Ich weiß, was dich bis jetzt davon abgehalten hat, dich von der Last und der Schwermut zu befreien. Dieses Ding, das an der Kette um deinen Hals hängt. Das Amulett, das du schon so oft verflucht hast. Nur das steht noch zwischen dir und dem Ende aller Qualen. Nimm es ab«, sagte er weich und glühend, all seine Fiebermacht in seine Stimme legend. »Das wolltest du doch schon tausendmal, oder etwa nicht? Leg es ab. Gib das blöde Ding weg. Gib es mir.«
Es war, als hielte die Welt den Atem an. Und vielleicht tat sie das in diesem Moment auch. Denn die Frau, die diese Welt erschaffen hatte, die Naahkin, die Riesin, die Göttin, nahm Abschied von ihr.
Ein seidig mattes Leuchten trat in ihre Pupillen, bevor sie langsam die Augen schloss, die Hände zum Hals hob und die Kette erfasste, über den Kopf zog. Und sie, mit einem unendlich befreiten Ausatmen, von sich warf.
Wie Boryk zurück in den Silbernen Berg gelangt war, hätte er hinterher nicht zu sagen gewusst. Er fand sich knapp unter dem Einstieg des senkrechten Schachtes wieder, wenige Sprossen nach der Stelle, an der die Schwerkraft einsetzte, an eine Trittstange geklammert wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibmetall.
Lange Zeit hing er so da, gepeinigt von Schüttelfrost und Kopfschmerzen. Ausgepumpt, zu Tode erschöpft. Der mentale Kampf hatte ihm das Letzte abverlangt. Boryk glaubte, jeden Augenblick müsste sein rasendes Herz im Leibe zerspringen, so sehr hatte er Geist und Körper überstrapaziert. Es erschien ihm unvorstellbar, dass er sich von dieser Anstrengung je wieder erholen würde. Seine Lungen brannten, als hätte er statt Luft Feuer geatmet. Er vermochte kaum etwas von seiner Umwelt wahrzunehmen, trotz der Zwielicht-Brille.
In der Faust hielt er die Kette mit dem zwei Finger langen, kartoffelförmigen Amulett. Die Beute, das Zeichen eines Triumphes, dessen er sich nicht zu erfreuen vermochte. Schon wieder hatte er seine infernalische Begabung eingesetzt, und abermals bezweifelte er stark, dass es zum Guten gewesen war. Er hatte sich gerettet, ja; doch um welchen Preis?
Es gibt keine Gottheit mehr in Himmel und Hölle.
Dunkel erinnerte er sich, wie sie gestorben war: buchstäblich verfallen vor seinen Augen. Zu einer Wolke aus Staub, die ein schwacher Luftzug verweht hatte.
Es gibt keinen Gott mehr. Hat es je einen gegeben?
Was sollte er mit der Kette und dem Anhänger tun? Vielleicht war es am Gescheitesten, er öffnete einfach die verkrampften Finger und ließ den Talisman, der seiner Vorbesitzerin so wenig Glück gebracht hatte, in den Schacht fallen. In die Tiefe, wo die Baggerbestien für den Matekten der Bergleute nach Rohstoffen gruben.
Dann fiel Boryk ein, dass er keinen sonstigen Beweis für seine Abenteuer hatte. Dummbeutel, der er war, hatte er nichts aus der Hölle mitgenommen. Die Blumengirlanden, mit denen ihn die Geneserinnen geschmückt hatten, hatte er sich vom Leib gerissen, als er sich seiner Sünden bewusst geworden war. Und dabei hatte er sich so fest vorgenommen, für Duani ein Mitbringsel zu besorgen!
Duani.
Duani! Ihr würde er das Amulett schenken. Es sah irgendwie technisch aus, und sie liebte solchen Kram. Die Regale ihrer kleinen Hütte waren voll von obskuren Fundstücken.
Nicht mehr ganz so niedergeschlagen hängte sich Boryk die Kette um und machte sich an den Abstieg. Mit jeder Sprosse, die er überwand, erging es ihm besser. Sein Gewicht nahm kleinweise zu, doch das störte ihn nicht. Im Gegenteil, er begrüßte es, wieder Boden unter den Zehen zu spüren, und wenn es nur rostige Trittstangen waren. Zugleich schwor er sich, dass dies sein letzter Ausflug
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