PR Lemuria 04 - Der erste Unsterbliche
die sich ausgeflippt und abgehoben gab, in Wirklichkeit aber weit mehr war als das Modepüppchen, das sie gern und lustvoll darstellte. Wer sie näher kennen lernte, staunte über Enivas messerscharfen Verstand. Sie entstammte einem alten Adelsgeschlecht und war versessen darauf, sich mit ihrem Können und ihren Leistungen zu legitimieren. Denn sie konnte es partout nicht ausstehen, wenn Leute mutmaßten, sie hätte ihre Position vor allem ihrer Herkunft zu verdanken. Dies duldete sie nicht, genauso wie sie Personen verabscheute, denen es an Intellekt und Auffassungsgabe mangelte. Solina und sie würden nie dicke Freundinnen werden, dazu waren sie zu verschieden aufgewachsen. Aber sie schätzten einander.
Und sie hatten ein gemeinsames Ziel.
Die Gedichte bildeten nur einen Vorwand, um Pläne schmieden zu können, ohne dass die omnipräsenten Roboter es bemerkten. Zweifellos zeichneten sie Gespräche auf, in denen bestimmte Schlüsselwörter vorkamen, und leiteten eine Zusammenfassung an das Flottenkommando weiter, mit dem sie in regelmäßiger Hyperfunkverbindung standen. In diesem goldenen Käfig hatten alle Wände Ohren, beziehungsweise Mikrofone. Aber auch das beste Akustikfeld und die ausgeklügeltste Analyse-Software ließen sich überlisten. Zum Beispiel, indem man sich großteils auf Lemurisch unterhielt -und dies außerdem an einem Ort, wo zahlreiche verschiedene Hintergrundgeräusche die Verständlichkeit erschwerten. An der Bar klirrten Gläser, klickten Eiswürfel, plätscherten Flüssigkeiten, surrte der Mixer, zischte die Kaffeemaschine... und fünf ausgelassen den unverhofften Urlaub feiernde Schiffsingenieure hatten eben begonnen, schlüpfrige Lieder abzusingen.
Gut so, Jungs!, dachte Solina Tormas amüsiert. Hoffentlich haltet ihr noch eine Weile durch!
Die beiden Akoninnen beugten sich über die Folien, die Solina auf dem Tresen ausgebreitet hatte, und steckten die Köpfe zusammen. Während sie vorgaben, uralte Poesie zu interpretieren, wogen sie, im wahrsten Wortsinn zwischen den Zeilen, ihre Chancen ab, sich und Rhodan Zugang zur ACHATI UMA zu verschaffen.
An eine unbemerkte Flucht aus der Kuppel war nicht zu denken. Ausgeschlossen, dass sie in dem als Regenerationszentrum getarnten Internierungslager Raumanzüge oder gar ein Gefährt auftrieben, in dem sie von dem Glutplaneten entkommen konnten. Das wäre wohl auch den Offizieren eingefallen, die sich hier sonst aufhielten, und bestimmt nicht immer freiwillig. Rettungsboote oder andere Vorkehrungen für Notfälle wurden überdies nicht benötigt, da sich vierhundert Insassen sowie deren behandelnde Ärzte problemlos binnen kürzester Zeit mit den reichlich vorhandenen Transmittern evakuieren ließen. Diese wiederum hatte man gewiss gegen Manipulationen geschützt. Wahrscheinlich konnten sie gar nicht von hier aus bedient werden, sondern wurden per Hyperfunk aus der nächstgelegenen Flottenbasis ferngesteuert.
Darauf zu spekulieren, dass sie in Persona einen Weg hinausfanden, war also illusorisch.
»Ziemlich traurige Aussichten«, meinte Eniva und tippte auf die Folie, als würde sie sich auf das Gedicht beziehen. »Frau könnte regelrecht melancholisch werden.«
»Das ist richtig. Aber der Verfasser bringt doch auch einen leichten Hoffnungsschimmer hinein. Hier: >So bleibt denen, welche in der realen Welt nicht Freiheit erlangen, immerhin, selbige in virtuellen Gefilden zu suchen. <«
»Wohlgesetzte Worte eines wahren Dichters. Glaubst du, er hatte eine bestimmte Gegend ins Auge gefasst?«
»Oh ja. Das wird durch die Alliterationen angedeutet. Ihre Position im Text verweist auf die Meta-Ebene. Ich führe übrigens einen Datenkristall mit mir, der uns die Traduktion erleichtern würde. Aber leider kann ich ihn nirgends abspielen.«
Man hatte ihnen ihr Gepäck belassen, ihnen jedoch neben den Waffen alle Ausrüstungsgegenstände abgenommen, in denen Syntrons integriert waren. Hevror ta Gosz, der Planetenökologe, hatte sich sogar von seinem geliebten, mit Messgeräten bestückten Gürtel trennen müssen.
»Es ist zum Haareraufen.« Eniva verdrehte die Augen nach oben, in Richtung ihres Frisurungetüms, und folgte dann mit dem Blick den Mini-Spraydosen und -pinseln, die unermüdlich neue Kunstwerke auf ihre Körperoberfläche applizierten.
Solina grinste verstehend. Sie verfügten sehr wohl über einen Syntron! Nämlich über den Pikosyn, der in Enivas Haarschopf versteckt war und die schwebenden Malutensilien steuerte, die zu ihrem
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