PR Lemuria 04 - Der erste Unsterbliche
verführen. Endlich die Antwort zu verlangen; gegen die Strömung zu schwimmen, so schwer es ihm auch fiel, bis zur Grenze der Welt. Doch jetzt fühlte er sich zu schwach dazu, schwächer als jemals in den vielen vergangenen Jahren. Er rollte sich in seiner Sandburg ein, vergrub die Füße in den Kieseln, genoss die Feuchte, die seine Qualen milderte. Betrachtete müde das Ufer, das Meer, die Himmelslinie.
In der sich eine Luke öffnete. Ein Geviert, dunkler als die Nacht, und dann unversehens gleißend hell.
Silhouetten schoben sich daraus hervor, hoben sich davor ab. Silhouetten von Riesen.
Und sie schwebten auf ihn zu.
Sein erster Gedanke war, dass ihn die Vergangenheit einholte. Spät, aber doch ereilte ihn die Strafe dafür, dass er die Naahkin in den Tod getrieben und sich ihr Amulett angeeignet hatte. Irgendwie hatten diese anderen Riesen davon erfahren, und nun waren sie gekommen, um Vergeltung zu üben.
Von Panik ergriffen, wühlte er sich in den Boden, so tief er nur konnte, schichtete einen Wall aus Sand und Geröll vor sich auf, bis auch sein Kopf zur Gänze dahinter verschwunden war. Wagte nicht zu atmen aus Furcht, das Rasseln seiner Lungen könnte ihn verraten. Hörte die sich rasch nähernden Riesen reden, in einer ihm unverständlichen Sprache. Nur einige Brocken schnappte er auf, die wie »Maffan«, »Majittri« und »Matekten« klangen. Das waren seine Titel. Kein Zweifel, sie suchten ihn! Er duckte sich noch tiefer, drückte das Gesicht gegen den Wall. Unwillkürlich formulierte er ein Stoßgebet an die Schöpfergottheit - bis ihm einfiel, dass keine Göttin mehr existierte in Himmel und Hölle, und dass er selbst Schuld daran trug.
Die Stimmen der Riesen entfernten sich wieder. Erst als er sie nicht mehr hörte, wagte Boryk, über den Rand seines Verstecks zu spähen.
Die Grauen erregend großen Gestalten, vier an der Zahl, flogen auf das Dorf zu. Sie trugen kugelrunde Helme auf dem Kopf und weite Gewänder, die entfernt an jene der Tennoi erinnerten, waren also wohl ebenfalls Schutzmänner. Das passte zu ihrem Auftrag, den Verbrecher Boryk einzufangen und abzustrafen.
Was sollte er bloß tun? Die Riesen wirkten unbezwingbar. Furchtbar stark mussten sie sein, denn sie schleppten mühelos mehrere Kisten mit sich, die fast so groß waren wie manche der kleineren Hütten. Mit Sicherheit würden alle Dorfbewohner zusammen nichts gegen diese vier Giganten ausrichten können, selbst wenn Boryk seinen Leuten eingab, ohne Rücksicht auf Verluste zu kämpfen.
Die Fähigkeit, anderen seinen Willen aufzuzwingen, nützte ihm ebenfalls nichts gegen die Riesen. Er sprach ja ihre Sprache nicht -somit konnte er ihnen auch keine Befehle erteilen! Seit seiner Kindheit hatte sich Boryk nicht mehr so schwach und hilflos gefühlt.
Inzwischen hatten die hünenhaften Schutzmänner das Dorf erreicht, gingen nieder und verschwanden hinter Hügeln, Bäumen und Menhiren aus seinem Blickfeld. Boryk stand auf, klopfte mechanisch den Sand von seiner Kleidung. Was sollte er tun, wohin sich wenden? Kein Ort im ganzen Himmel fiel ihm ein, wo er sich hätte dauerhaft verstecken können. Im Silbernen Berg war er genauso wenig sicher wie in den Klippen. Nicht einmal, über den Vulkan ins Engelland oder auf die Jenseite zu fliehen, hätte etwas gebracht. Hatte die Naahkin nicht behauptet, die Welt sei von ihr und anderen ihrer Art erbaut worden? Es bestand kein Grund, an den Aussagen der Göttin zu zweifeln; auch die Worte der Heiligen Folie hatten sich schließlich als wahr erwiesen. Wenn sie aber zu den Schöpfern gehörten, dann kannten die riesenhaften Rächer jeden Winkel der Welt zehnmal besser noch als er selbst.
Was geschah wohl in diesen Augenblicken im Dorf? Trieben sie die Bewohner zusammen, brüllten sie seinen, Boryks, Namen? Bedrohten sie seine Leute, prügelten und folterten sie, weil sie nicht verrieten, wo der Gesuchte steckte? Durfte er derlei überhaupt zulassen? Sein armes Volk konnte ja nichts dafür, hatte nicht den geringsten Anteil an seiner Missetat! Sollte er sich nicht lieber stellen, um Schaden von Unschuldigen abzuwenden?
Unentschlossen, zögerlich wie zuletzt vor Ewigkeiten, als er seine Queste begonnen hatte, bewegte Boryk sich auf das Dorf zu. Da er sich noch zu keiner Entscheidung durchgerungen hatte, nutzte er jede Deckung aus, huschte von Fels zu Busch, von Stall zu Honigstock. Immerhin ertönten weder Schreie noch andere Geräusche, die auf Kämpfe oder Züchtigungen hindeuteten.
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