PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
legte einen Pod beiseite und griff nach dem nächsten. Es war ein ruhiger Tag. Bloß etwa zweitausend Nachrichten warteten darauf, gesichtet und beantwortet zu werden. Eine Lappalie angesichts dessen, was sonst auf ihn hereinstürzte. Drei Mitarbeiter taten ihr Bestes, um ihn zu entlasten. Sie fassten Informationen blockweise und in der passenden Reihenfolge zusammen; sie delegierten unwichtige Themen an nachgeordnete Mitarbeiter und nahmen ihm ab, was sie selbständig erledigen konnten. Dennoch war Marshalls Arbeitspensum kaum zu bewältigen.
Er hatte einen Vorteil: Er lauschte den Gedanken seiner engsten Mitarbeiter, natürlich mit deren Einverständnis. Die drei waren bestens geschult und verfügten über eine ausgezeichnete Selbstkontrolle. Was sie ihm mitteilen wollten, lag ganz »oben« in ihrem Kopf, wie wichtige Schriftstücke in einem Stapel, der abgearbeitet gehörte. Nicht immer vermochte er so auf sie zuzugreifen, wie er es gerne gewollt hätte. Noch immer hatte Marshall Schwierigkeiten, Menschen gezielt zu belauschen, und er brachte schon mal etwas durcheinander.
Diese Art der Zusammenarbeit war ein Experiment, über dessen Ausgang Ungewissheit herrschte. Womöglich würde er es in einigen Wochen abbrechen müssen; es erschöpfte seine Mitarbeiter, es erschöpfte ihn.
Er sah auf die Uhr. »Es ist genug für heute«, sagte er zu Barnabas, dem bulligen Jamaikaner. »Ich brauche Sie nicht mehr.«
»Aber Chef ...«
»Ich sagte: Es ist genug.« Marshall versuchte streng zu klingen, doch er versagte. Wie meist. »Ich habe einen Überblick, was zu tun ist, und werde so viel wie möglich abarbeiten. Was übrig bleibt, bleibt eben übrig. Die Welt wird deswegen nicht untergehen. Zumindest nicht heute.«
Barnabas sah ihn zweifelnd an. Marshall fühlte seine Erleichterung. Er war glücklich darüber, dem Hamsterrad für wenige Stunden entkommen zu können.
Er sah Bilder. Die eines jungen Mädchens mit aufregend blauen Augen. Sie tanzte und lachte, und sie lockte. Barnabas dachte derart intensiv an sie, dass auch Marshall von Erregung gepackt wurde.
Hol sie dir!, wollte er Barnabas sagen. Hab Spaß, genieße dein Leben!
Doch er tat es nicht, und das aus gutem Grund: Sein Mitarbeiter brauchte nicht zu wissen, wie viel er von seinem Leben sah und miterlebte. Andernfalls hätte Marshall Barnabas längst verloren.
Er hätte nur zu gern seine eigene Begabung besser zu kontrollieren gelernt. Aber er fand kaum Zeit, sich damit zu beschäftigen. Ständig wurde er abgelenkt, musste neue Aufgaben übernehmen, organisieren, Anweisungen geben, als Verbindungsmann zu den Ferronen auf dem Gelände des Lakeside Institute herhalten, Bauarbeiten genehmigen, Neuankömmlinge begrüßen und sie Tutoren zuordnen, Kontakt zu Neurologen, Humangenetikern, Allgemein- und Alternativmedizinern halten ... Es waren zu viele Aufgabengebiete, um sie allesamt im Auge zu behalten.
Er war die Speerspitze eines Heeres an Fachleuten, die sich eben erst in einem neuen, völlig unbekannten Aufgabengebiet zurechtfinden mussten. Ihrer aller Aufgabe war es, den Mutanten aus aller Herren Länder eine Heimat und eine Zuflucht zu schaffen. Um sie zu beschützen, zu lehren und ihnen eine Ethik begreiflich zu machen, die von Perry Rhodan vorgegeben und von ihm, John Marshall, definiert worden war.
Barnabas grüßte müde und verließ das Büro. Diesen Raum, der sich ständig änderte. Der neuen Ideen und Anforderungen angepasst werden musste. Fast minütlich liefen neue Nachrichten über die Bildschirme, die für Marshall von Interesse waren. Er ignorierte sie weitgehend und machte sich stattdessen daran, zumindest die Pod-Informationen in den Griff zu bekommen.
Er schnappte sich eines der größeren Geräte, synchronisierte die Nachrichten und zog sich dann in seine ruhige Sitzecke zurück, die er sich von den Innenarchitekten ausgebeten hatte. Hier gab es so etwas wie Heimeligkeit, hier konnte er die Gedanken an seinen Arbeitsalltag minutenweise beiseitedrängen. Und hier schlief er meist ein.
Doch er war nicht allein zurückgeblieben. Sein merkwürdiger Gast saß da, ruhig, und starrte durch das Panoramafenster ins Freie. Hinaus auf das begrünte Gelände mit den flachen Gebäuden, die zwischen sanften Hügeln beinahe verschwanden. Die Blicke der Frau schweiften über den Goshun-Salzsee links davon. Oder hatte sie den Stardust Tower ins Auge gefasst, der dahinter in den nächtlichen Himmel stach, mehr als 2000 Meter, grell beleuchtet, an dem
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