PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
das anderen Menschen unbegreiflich blieb.
Sie ist kein Mensch, John! Sie ist eine Halbarkonidin. Sie trägt ein seltsames Erbe in sich. Etwas, über das sich niemand völlig im Klaren ist – und am allerwenigsten wohl sie selbst. Was auch immer sie erlebt hat – es hat ihre Psyche so sehr mitgenommen, dass sie sich womöglich niemals mehr erholen wird.
Marshall zog sich zurück und kümmerte sich wieder um seine Angelegenheiten. Der Pod hatte ein Dutzend weiterer Nachrichten für ihn registriert. Draußen ging der Mond auf, ein Halbmond, der über der Stadt hing, und die Aussicht noch unwirklicher erscheinen ließ.
Quiniu hatte einen Turm gebaut. Er ähnelte vage dem Stardust Tower, war aber doch ganz anders. Verschoben und verzerrt, wie durch ein Fischaugenobjektiv betrachtet.
»Das ist schön«, sagte Marshall und streckte die Hand aus, um einen weit vorragenden Stein zurechtzurücken.
Quiniu hieb nach seinen Fingern, so unvermutet, dass er die Hand nicht rechtzeitig zurücknehmen konnte. Sie war so völlig frei von Gedanken, dass er den Schlag nicht einmal erahnte.
»Ist schon gut. Es tut mir leid; ich wollte bloß helfen.« Er zog sich weit zurück, darauf bedacht, die Halbarkonidin nicht weiter zu erschrecken. Doch sie achtete längst nicht mehr auf ihn, war wieder in ihrer Arbeit versunken.
Marshall beobachtete sie eine Weile, kümmerte sich um seine eigenen Aufgaben, sah ihr wieder zu. Hielt sie stets unter Beobachtung.
Warum tat er sich das bloß an? Er hätte diese Aufgabe längst an jemand anderen übergeben können. Im Lakeside Institute gab es mehrere Telepathen, die ohnedies geschult gehörten und Quiniu überwachen konnten. Doch sie waren allesamt blutjung und ohne Erfahrung. Sie besaßen nicht den Überblick über die Geschehnisse in Terrania im Speziellen und auf der Welt im Allgemeinen, den er sich mittlerweile verschafft hatte. Die Erfahrungen der Halbarkonidin standen in Zusammenhang mit den vielen Rätseln, die sich bei der Suche nach der Unsterblichkeit angehäuft hatten.
Irgendwann wirst du lernen müssen zu delegieren. Andernfalls machst du's nicht mehr lange. Nicht bei dem Tempo, das du derzeit hast.
Ein Piepsen riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Der Pod gab ein Dringlichkeitssignal. Marshall vermutete, dass es sich wieder einmal um eines seiner größten Sorgenkinder handelte, und ein Blick auf das Display bestätigte seine Ahnungen: Es ging um Sue Mirafiore.
Er ließ sich mit dem Absender der Nachricht verbinden. Fulkar starrte ihn auf eine Weise an, die Marshall Bauchgrimmen bereitete. Er fühlte sich seziert und zerlegt. Wegen seiner geistigen Fehlbildungen als interessanter Fall abklassifiziert, als Mann, dessen Charakter Fulkar als ungeeignet für seine Aufgabe erachtete.
»Sie sehen schlecht aus«, sagte der Ara statt einer Begrüßung. »Selbst für einen Menschen. Wenn Sie wollen, versorge ich Sie mit einem Cocktail, der Sie über eine Woche aktiv hält und kaum schädlich ist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, wäre es dringend notwendig, die Wirkung des nachmatari greasu auf den menschlichen Metabolismus endlich einmal in der Praxis zu testen. Dauer und Nachdruck der Versuchsreihen, die ein neues Medikament auf der Erde durchlaufen muss, bevor es für den Markt freigegeben wird, sind einfach nur lächerlich.«
»Das ist sinnvoll und wichtig«, entgegnete Marshall. Er tat es wider besseren Wissens; er wusste, dass sein Gegenüber weiter argumentieren und ihm einen langatmigen Vortrag halten würde. »Es muss ausgeschlossen werden, dass die Nebenwirkungen eines neuen Medikaments Erfolg und Nutzen zunichtemachen.«
»Ich gebe mein Wort als Mediziner, dass ich mich jedes einzelnen ... Störfalls persönlich annehmen werde.« Der Ara blinzelte – das erste Mal seit Beginn ihres Gesprächs. »Auch ihr Terraner werdet irgendwann akzeptieren, dass gerade in vorsorgemedizinischen Belangen ein gewisses Risiko gegangen werden muss. Bereits jetzt breiten sich Keime und Krankheitserreger auf der Erde aus, für die ihr keine entsprechenden Blocker bereitstellen könnt. Ferronen, Arkoniden, Naats, Fantan – sie alle haben Spuren hinterlassen, deren Konsequenzen unabsehbar sind. Es wird notwendig sein, die virologische Prophylaxe auf neue Füße zu stellen und schneller zu reagieren ...«
»Wir haben dieses Thema bereits ausgiebig durchdiskutiert, Fulkar. Sollte sich die Notwendigkeit ergeben, werden wir uns Ihre Vorschläge gerne anhören. Aber nun möchte ich Sie bitten,
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