PR NEO 0045 – Mutanten in Not
Stirn, fuhr sich mit der Hand über die Augen, wandte den Blick ab und setzte fort: »Wände aus Erde, Kalk, Kreide und Schotter sind mit primitivsten Mitteln, wenngleich hohem Arbeitseinsatz zu errichten, unentflammbar, massiv, weisen einen extremen Wärmedämmungsgrad auf und halten jeglichen Witterungseinflüssen stand, ohne aufwendig gewartet werden zu müssen.«
»Beeindruckend«, sagte Caroline. »Trotzdem würde ich jetzt gern mit Professor Gilgrich sprechen.«
»Ich habe Sie angemeldet. Wir gehen gleich in sein Büro. Sie verstehen, dass wir Jonathan einigen Erklärungsaufwand und damit wertvolle Zeit ersparen, indem wir alle Besucher und Besucherinnen erst mal auf einen kurzen Rundgang einladen?«
»Ja und nein. Ich hatte betont, dass es sich um eine dringliche Angelegenheit handelt, und bitte abermals, schleunigst vorgelassen zu werden.«
»Wissen Sie«, sagte die walisische Elfe sanft, »ich verstehe Ihre Ungeduld, aber wir erleben hier seit Jahrzehnten einen Ansturm von sendungsbewussten Persönlichkeiten, deren Vorleben und Beweggründe zu recherchieren, wir ganz einfach nicht die Kapazitäten haben. Uns sind andere Dinge wichtiger. Es hat sich bewährt, dass wir zuerst unser Möglichstes tun, die schlimmsten Missverständnisse auszuräumen.«
Caroline rieb sich mit den Handballen die schmerzenden Schläfen. »Mit dem meisten, was ich bisher hier gesehen habe, rennen Sie bei mir offene Scheunentore ein. Toll, dass es so etwas gibt. Trotzdem muss ich dringend mit Jonathan Gilgrich reden.«
»Und da sind wir auch schon.« Die Führerin klopfte an die Tür. »Jonathan?« Sie prüfte die Klinke – abgesperrt.
»Ich habe Gesellschaft«, erklang es dumpf von innen. »Wir wollen nicht gestört werden.«
»Fragen Sie ihn, wer bei ihm ist!«, drängte Caroline.
»Wer ist bei dir?«
»Ha! Das glaubst du nicht. Ein verlorener Sohn. Andrew ...«
Bevor sie noch Black gehört hatte, warf Caroline sich mit voller Kraft gegen das Türblatt.
Umgeben von Holzsplittern, taumelte sie in den Raum.
André Noir saß hinter dem Schreibtisch, neben einem etwa siebzig Jahre alten Mann mit wuscheligen, schlohweißen Haaren, der erschrocken zurückfuhr. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
»Ihn. Ihn will ich.« Caroline hatte keine Schusswaffe bei sich. Trotzdem klopfte sie auf ihren Oberschenkel, während sie mit der anderen Hand anklagend auf Noir zeigte. »Du bist verhaftet!«
»Oh ja! Welch wahres Wort, gelassen ausgesprochen. Und wie ich meinen Lieben verhaftet bin! Aber Sie dringen etwas ungestüm hier ein und stören eine private Konversation, schöne blonde Dame. Mit welchem Recht, wenn Sie mir die Frage erlauben?«
»Mörder!«, rief Lekoche Kuntata von hinten.
»Und Sie haben außerdem eine überaus interessante Erscheinungsform der menschlichen Rasse mitgebracht«, sagte André Noir, eine Verbeugung andeutend. »Jemand, der nicht gesehen werden will. Sozusagen die Bescheidenheit in Person. Egal. Jonathan und ich möchten gern noch etwas zu Ende besprechen. Bitte entfernen Sie sich, oder ich entferne Sie.«
Caroline sah rot. Die Fäuste vorgestreckt, hechtete sie über den Tisch ...
Und schlug nirgends auf.
Nirgends .
Sie schwebte in Schwärze, atemlos, körperlos. Um sie verfestigten sich Zeit und Raum zu einer grauenhaft stinkenden Molasse, deren Trägheit sie vereinnahmte, ihr jegliche Hitze entzog – und alle Energie, die sie jemals besessen hatte.
So, dachte sie, schwach und zittrig, fühlt es sich an, wenn man stirbt.
Als sie wieder zu sich kam, war Noir verschwunden.
Lekoche rüttelte Jonathan Gilgrich, der über seinem Schreibtisch zusammengebrochen war. »Einen Arzt!«, rief er der Rothaarigen zu, die sich eben durch die zerstörte Tür zwängte. »Schnell, holen Sie einen Arzt!«
Caroline rappelte sich hoch. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Erdnüssen. Auch ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt Papier lag darin. Sie klappte die aus einem Notizblock gerissene Seite auseinander und strich sie glatt.
Da stand in einer trotz der schwungvoll ausufernden Unterlängen gut lesbaren Handschrift: Sie sind Mutanten. Es tut mir leid für Sie. Sie werden es auch bald spüren. Aber ich muss eine subjektive Auswahl treffen. Ich kann nicht alle erlösen, nicht die ganze Welt. Bitte, behindern Sie mich nicht länger.
Was sollte das nun wieder heißen?
Caroline straffte sich. Sie schüttelte die Benommenheit ab. Die erste Frage, die sich ihr aufdrängte, war: Wieso hatte Noir sie nicht
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