PR NEO 0045 – Mutanten in Not
kredenzt?«
»Ah, der Herr ist ein Kenner! Sie liegen völlig richtig. Unser Chef Simon Wu versteht dies als eine Verneigung vor seinem Mitbewerber Rinat Ugoljew, der als Erster außerirdische Spezereien in die gehobene Küche unseres Planeten eingeführt hat.«
»Soso.« Rhino hüstelte. »Eine Hommage quasi.«
»Genau. Einer fängt an, der Nächste verbessert. – Oder möchten Sie lieber einen klassischen Kir Elderberry?«
»Nein, der Eistee konveniert mir durchaus. Mal sehen, ob er mit dem Original mithalten kann.«
»Wir bemühen uns.« Der Kellner blickte ostentativ auf den anderen Sessel am Zweiertisch. »Werden Sie allein speisen?«
»Meine Begleiterin stößt in Kürze zu mir. Sie können für sie das gleiche Getränk bringen.«
»Sehr wohl, mein Herr.«
Bitte, dachte Rhino. Bitte, Ariane, komm bald!
Als sämtliche Tische besetzt waren, erhellte sich die kreisförmige Bühne im Zentrum des Saals. Trockeneisnebel, Stroboskopeffekte, ein Tusch – dann standen zwei Personen im blauweißen Scheinwerferlicht. Die eine war die Darstellerin der Replikantin Rachael im jüngsten Remake von »Blade Runner«, eine bildhübsche Kanadierin, die als heiße Kandidatin für den nächstjährigen Nebenrollen-Oscar gehandelt wurde.
Der andere war Simon Wu.
Die Schauspielerin wartete, bis der Applaus verebbt war, dann sagte sie: »Meine Damen und Herren, es ist mir eine Ehre, Sie an einem Abend begrüßen zu dürfen, der zweifelsohne in die Geschichte der Kulinarik eingehen wird. Der Mann, der Ihre Gaumen mit völlig neuen Kreationen verzücken wird, steht neben mir. Sie alle kennen ihn. Las Vegas, Unterhaltungs-Hauptstadt dieser Welt – ich präsentiere Ihnen Simon Wu!«
Abermals brandeten Ovationen auf. Der Hongkong-Chinese verneigte sich tief. »Sie wissen«, sagte er hernach, »dass ich nicht gerne rede. Ich vertrete die Auffassung, der Mund und vor allem die Zunge sollten höheren Zwecken dienen. Beispielsweise das Universum zu schmecken, die Unendlichkeit des Kosmos geschmacklich zu erahnen. Nicht mehr und nicht weniger versuchen wir, Ihnen in dieser Nacht darzubieten. Guten Appetit, meine Freunde!«
Kaum hatte der Jubel geendet, schwirrte eine Heerschar von Kellnern herein und servierte die ersten, winzigen Teller. Darauf lag nur die nicht einmal halbzentimeterdicke Scheibe einer Sternfrucht, mit einem Fingerhut voller rötlicher Soße.
Der Stern passte zum kosmischen Gesamtthema, aber Rhino war dennoch überrascht, dass sein Erzrivale es so billig gab. Karambole, wie die fünfzackige Frucht auch genannt wurde, galt mittlerweile als mindestens so abgeschmackt wie getrocknete Tomaten oder Schnörkel aus Balsamico-Reduktion am Tellerrand.
Immer wieder sah er zur Eingangstür in der Hoffnung, dass Ariane Colas endlich auftauchen möge. Erst als sich an den Tischen rings um ihn die »Ah!«- und »Oh!«-Ausrufe mehrten, kostete auch er – und schnalzte verblüfft mit der Zunge. Der Stern auf dem Teller sah nur täuschend ähnlich aus wie ein Karambole-Querschnitt, bestand aber aus glacierter Pastete. Nein, aus fünf verschiedenen Pasteten, denn jeder Zacken schmeckte anders! Einer wie saftiger, milder Beinschinken, ein anderer wie reifer Gorgonzola, beim dritten gaben Pistazien den Ton an ... Die Soße entpuppte sich als lauwarmer Powidl, Pflaumenmus, das mit jeder der fünf Geschmacksrichtungen harmonierte.
Kompliment, Herr Kollege, dachte Rhino bei sich. Sehr raffiniert gemacht. Zuerst scheinbar die Erwartungshaltungen enttäuschen, um dann umso stärker zu punkten!
Außerdem wurde ein Leitmotiv angeschlagen: Traue deinen Augen nicht, erwarte das Unerwartete. Mit diesem ersten Gang hatte Simon Wu sich schlagartig die volle Aufmerksamkeit seines Publikums gesichert. Die Spannung, was als Nächstes kommen würde, wuchs ins Unermessliche.
Es waren wieder Sterne; Zimtsterne. Freilich keine süßen, dazu wäre es viel zu früh gewesen, sondern pikante aus hauchdünnem Pumpernickel, der mit einer Kichererbsen-Anis-Zimtpaste sowie Schmand, steifer Crème fraîche, bestrichen war. Kaum sichtbare Stückchen von weißen Pfefferkörnern, Wacholderbeeren und Jalapeño-Chilies sorgten diesmal für geschmackliche Überraschungen. In Summe war das zweite Amuse-Bouche konventioneller und nicht ganz so sensationell wie das erste, dramaturgisch aber perfekt mit diesem abgestimmt – die konservativeren Gourmets würden es der falschen Sternfrucht vorziehen, während diese wiederum bei den abenteuerlustigeren Gästen
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