PR NEO 0053 – Gestrandet in der Nacht
Würde. Es war aber auch nichts Neues – die wenigsten Rudergänger verstanden etwas von der Arbeit der Lotsen. »Der springende Punkt ist, Sie missachten die Regeln. Und es kommt zu Defekten technischer und psychologischer Natur, in noch nie da gewesenem Ausmaß. Ursache und Wirkung, Rudergängerin.«
»An den psychologischen Defekten tragen Sie Mitschuld, Lotse! Das Prinzip der selbst erfüllenden Prophezeiung ist wohl nicht Bestandteil Ihrer Ausbildung?«
»Ich bestreite Ihre Unterstellung. Und es erklärt auch nicht die Fehlfunktionen, mit denen wir die letzten Tage zu kämpfen hatten.«
»Wir?«, wiederholte Ihin da Achran.
»Ich bin dem Wohlergehen des Trosses ebenso verpflichtet wie Sie, Khestan. Nur deshalb bin ich hier.«
Sie seufzte. »Was also schlagen Sie vor?«
»Sie kennen meine Antwort.«
»Das kommt nicht infrage.«
»Lassen Sie zwei Schiffe zurück! Wen schert es, ob der Tross mit 170 oder 180 Schiffen in Thantur-Lok eintrifft? Den Regenten? Glauben Sie wirklich? Wen versuchen Sie eigentlich damit zu beeindrucken, wem wollen Sie etwas beweisen?«
»Die Zusammenstellung der Schiffe eines Trosses gehorcht bestimmten ästhetischen, zeremoniellen und praktischen Überlegungen, die weit über die Frage der bloßen Anzahl hinausgehen. Sie ändern auch nicht die Zahl der Streicher in einem Orchester oder der Darsteller in einem Stück, nur weil es Ihnen gerade passt.«
»Haben Sie nicht genau das getan? Nirgendwo steht geschrieben, dass ein Tross größer zu sein hat, bloß weil ein Regent anstelle des Imperators regiert oder die Khestan Ihin da Achran ihn führt. Lassen Sie zwei Schiffe zurück, Rudergängerin! Sie können mit dem nächsten Konvoi weiterfliegen.« Er beschloss, sie auf die Probe zu stellen. »Was ist zum Beispiel mit dieser geschmacklosen knallroten Antiquität, die Sie kurz vor knapp noch aufgelesen haben? Der TIA'IR?«
»Die TIA'IR bleibt im Tross«, schnappte die Rudergängerin.
»Wieso?«, reizte er sie. »Sie erfüllt keine Funktion und befördert keine wertvolle Fracht. Ich weiß das, denn ich habe sie selbst inspiziert. In meinen Augen ist sie der Inbegriff einer entbehrlichen Last für unsere Reise.«
»Dieses Schiff steht nicht zur Diskussion!« Die Rudergängerin atmete tief durch und senkte ihre Stimme wieder. »Was tue ich hier eigentlich und diskutiere mit Ihnen? Hätte mir denken können, was Sie zu sagen haben. Genießen Sie die Zeit in Ihrer Endlichen Nacht, Lotse! Ich hoffe, sie wird Ihnen nicht zu lang. Ich muss jetzt zurück in die Zentrale und mich um dringendere Angelegenheiten kümmern.«
Sie wandte sich ab und rauschte die Treppe hinunter. Die Luke schloss sich. Anra'Thir'Nom war wieder allein.
Interessant, dachte er. Es scheint, ich bin mit meinem Wissen, dass die Besatzung der TIA'IR nicht bloß aus einfachen Gha'essold besteht, nicht allein ... Was sie wohl für ein Interesse an ihnen und ihrem Schiff hat? Nun, Anetis' Wege sind unergründlich ...
Er drehte seinen Sessel und schaute versonnen in die Nacht hinaus. Lauschte auf die Stimme der Leere, doch die Leere sprach nicht zu ihm.
Etwas war anders.
Er ging in sich und versuchte die Quelle dieser Veränderung zu ergründen. Da merkte er auf einmal, was es war: Es war der Duft, der noch in seiner Kuppel hing.
Zu süß für seinen Geschmack, aber nicht ohne Reiz, wie ein schwerer Gewürzwein.
8.
Atlan
Sommer in Atlantis.
Das Meer eine azurblaue Fläche, die sich in der Unendlichkeit verliert, der Horizont wie mit dem Messer gezogen. Darüber eine andere, die wahre Unendlichkeit, ein anderes Blau, das an diesem Tag fast dunkler zu sein scheint als die Farbe des Meeres. Hinter mit scheint noch die Sonne, sodass mein Turm einen langen Schatten über die Klippen und das Meer wirft. Doch dort im Osten ziehen Wolken auf, dunkler als sonst, beinahe rauchgrau, als seien sie schon die Boten der Vernichtung, die uns allen droht, der schrecklichen Gefahr, die irgendwo dort draußen zwischen den noch unsichtbaren Sternen lauert.
Es ist meine Insel, meine Stadt, wie ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ich ahne noch nicht, dass ich nie wieder hier oben stehen, nie wieder diesen Anblick genießen werde. Dies wird der dunkelste und längste Tag meines Lebens.
Er währt bis heute.
Ein paar Gleiter steigen vom Landefeld auf und machen sich auf den Weg in den Orbit. Wenn sie heute Nacht zurückkehren, dann wird es den Menschen scheinen, als ob der Himmel Tränen der Sorge vergieße. Vielleicht sind
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