PR NEO 0057 – Epetrans Geheimnis
diese Gabe gezielt einzusetzen. Es kostete sie Kraft, zehrte sie aus, doch daran hatte sie sich längst gewöhnt. Diesen Preis zahlte sie gerne.
Sie vergegenwärtigte sich die Holoaufnahme, die sie an Bord der TIA'IR von Onat da Heskmar gesehen hatte. Es wäre ein riesiger Zufall, wenn sie bei ihrer Suche auf ihn stoßen würde, aber sie musste es zumindest probieren. Selbst wenn er sich in der Nähe aufhalten sollte, was sie für höchst unwahrscheinlich hielt, gab es absolut keine Garantie, dass sie ihn sah. Er könnte sich so sehr verändert haben, dass sie ihn nicht erkannte; sie könnte in einer Menschenmenge über ihn hinwegsehen oder schlicht nicht genug Konzentration finden, um ...
»Nein!«, sagte sie.
Das Wort verhallte in der Erdhöhle, und es hörte sich für ihre Ohren fremd an, wie sie sich selbst einen Befehl erteilte. Aber es half ihr, sich aus dem negativen Gedankenstrudel zu befreien. Sicher konnte einiges schiefgehen, aber darauf durfte sie sich nicht fokussieren, nicht mit dem Schlechten rechnen.
Also konzentrierte sie sich und schaute aus der Höhle, über die Oase, und sie suchte, und sie sah ...
... und ich schaue aus der Höhle, über die Oase, und ich suche, und ich sehe: Menschen. Nomaden. Da ist Atlan, da ist Iwan Goratschin, und ein warmes Gefühl überläuft mich. Andere sitzen um die beiden herum: Junge, Alte, einige Frauen. Ich sehe ihnen in die Gesichter, und schon die Menge dieser nicht mehr als zehn Leute lässt mich schwindlig werden. Aber hier sitzt Onat da Heskmar natürlich nicht; wenn es ein bizarrer Zufall so gewollt hätte, wäre er von meinen Gefährten längst erkannt worden.
Also konzentriere ich mich, steige mit meinem Blick hoch in die Luft, mit meinen Augen, und ich schwebe wie ein Adler über allem. Ich sehe so viel, zu viel; es sticht wie mit Feuerlanzen in meine Sehnerven, dass ich glaube, etwas bohre sich in mein Gehirn. Ruhig, ich muss einfach nur ruhig bleiben, es ist völlig normal, es wird vergehen.
Langsam tauche ich wieder hinab in die Oase, dorthin, wo sich andere Menschen aufhalten. Zwei alte Frauen, die sich unterhalten. Ihre Lippen sind trocken, aber sie lachen. Eine hat eine Wunde an ihrem Bein, ich sehe es unter ihrem Gewand. Sie ist entzündet. Es spielt keine Rolle. Es geht mich nichts an.
Ich löse mich und schaue mich um, sehe all die Menschen, hole sie heran, blicke in ihre Gesichter. Sie sind traurig, müde, hungrig, fröhlich, sie lachen, und da ist ein Mann voller Ekstase und ein verschwitztes Frauengesicht direkt neben ihm.
Weg, nur weg von hier, es geht mich nichts an, der Adler fliegt über die Wüste, in die Nacht hinein, immer weiter, und da sind Menschen. Sie sitzen um ein Feuer, das sie wärmt und ihnen Licht gibt. Es zieht mich an, und ich will sie ansehen, aber ihre Gesichter verschwimmen, ich kann sie nicht scharf stellen, ich muss mich konzentrieren, ich ...
Ishy Matsu konnte die Gesichter der Menschen um das Lagerfeuer nicht erkennen. Erschöpfung machte sich breit. Ihr Kopf sackte auf die Brust, und sie schreckte aus einem Sekundenschlaf hoch. Ihre Finger, die nach wie vor den Wasserschlauch hielten, zitterten. Sie trank.
Ihr wurde klar, dass sie langsamer vorgehen musste. Sie durfte nicht zu viele Bilder in zu kurzer Zeit mit ihrer Gabe zu sich heranholen. Es überforderte sie, wohl auch, weil ihr Körper durch den Wüstenmarsch sowieso geschwächt war.
Sie schloss die Augen, und sie ließ sie geschlossen, als ...
... und ich lasse sie geschlossen, als ich wieder hinausschaue in die Wüste, in die Weite. Ich will das Lagerfeuer wiederfinden, aber ich weiß nicht mehr genau, in welcher Richtung es lag.
Mit einem Mal ...
... springt der Adler, als ich ihn zu lenken versuche, und unter mir breitet sich nicht mehr die Weite der Wüstennacht aus. Ein glimmendes, tiefrotes Feuer wallt dort, und eine Säule aus flüssigem Tod jagt auf den Adler zu. Es ist eine Magmaeruption aus dem Binnenmeer, und ich erschrecke und ...
... springe erneut. Das Bild vor mir ist nicht dunkel, ist kein Feuer, ist eine ewige Ebene aus Weiß. Eis türmt sich auf, gigantische Gletscherberge sehen aus, als habe die Zeit eine Welle gefangen und von einem Augenblick auf den nächsten gefrieren lassen. Schnee weht in der Luft, und eine Gruppe dunkler, fischartiger Tiere tappt über die Gletscher. Ich bin so nah, dass ich ihre Fischmäuler erkennen kann, wie sie sich öffnen und schließen, öffnen und schließen, aber ich höre nichts, denn der Adler
Weitere Kostenlose Bücher