PR TB 069 Menschen Aus Der Retorte
erscheinen, daß Fremde
den Planeten besuchten; er würde selbst durch eindeutige
Hinweise nicht einmal auf diesen Gedanken kommen. Da bestand schon
eher die Möglichkeit, daß man Bürger der anderen
Clone verdächtigte.
Plötzlich wurde Stem sich der Gefahr bewußt, in die der
Frieden auf Refuge dadurch geraten konnte. Die alte Rivalität
hatte niemals ausgerottet werden können, und die Erinnerung an
den „Krieg der Clone“ war noch lebendig, denn die
Menschen jener Zeit lebten auch heute noch.
Er bezwang jedoch seine Unruhe.
„Ich werde mir die Unfallstelle später ansehen,
Sidni-Calv. Du leihst mir doch einen Alsatian?“
Calv grinste und schlug Stem auf die Schulter.
„Selbstverständlich. Und ich werde den Alsatian
steuern.“ Er räusperte sich. „Was nicht heißen
soll, daß ich dich für unseren Unfall verantwortlich
mache, Stem.“
„Das wollte ich dir auch nicht geraten haben.“
Sidni-Stem bemühte sich, finster dreinzublicken, dann lächelte
er. „Ich ziehe mich jetzt an und werde Irul-Luzie besuchen.“
„Hoffentlich wirst du nicht abtrünnig, Stem“,
entgegnete Sidni-Calv beunruhigt. „Warum kommst du nicht in
meine Familie? Nana-Muro würde sich bestimmt freuen - und wir
anderen auch.“
„Ich weiß“, sagte Stem.
Vor seinem geistigen Auge tauchte die grazile Gestalt Nana-Muros
auf. Sie war wirklich eine begehrenswerte Frau, und er hatte oft
genug bemerkt, daß sie sich für ihn interessierte. Gerade
deshalb achtete er sie besonders, denn sie hatte es bisher taktvoll
vermieden, ihm einen eindeutigen Antrag zu machen. Den Antrag einer
mannbaren Frau des gleichen Clone auszuschlagen, zog nach
ungeschriebenem Gesetz den Ausschluß aus dem Clone nach sich,
und keine Frau aus anderen Clone durfte einen Ausgestoßenen bei
sich aufnehmen. Diese Gesetze behagten den Männern der Clone
keineswegs, aber da es durchschnittlich zehnmal mehr Männer als
Frauen gab, zogen sie es seit jeher vor, das Mißtrauen des
anderen Geschlechts nicht herauszufordern.
Er seufzte und reckte sich.
„Richte Nana-Muro Grüße von mir aus, Calv. Ich
komme später bei euch vorbei. Dann besprechen wir auch die Sache
mit dem Ausflug in den Großen Graben.“
Er griff nach seinen Sachen und kleidete sich an: kostbare lederne
Beinlinge, Sandalen aus dickem schwarzgrauen Leder von der Haut eines
Domesticals und dann sein kostbarstes Gewand, eine am Hals
geschlossene, lange lockere Jacke aus Blaulachshaut, die mit
prachtvollen Applikationen aus roher Haut verziert war.
Vor dem Portal des Regenerationszentrums verabschiedeten sie sich.
Sidni-Calv ging zu Fuß; er hatte es nicht weit. Sidni-Stem
dagegen bestieg seinen flachen Elektrowagen und steuerte ihn aus dem
Zentrum von Anderson-City hinaus auf die breite Straße, die mit
sanfter
Steigung über die Klippen führte und achtzig Kilometer
weiter Babakow-City erreichte.
Während er über die Neunzehn-Bogen-Brücke fuhr, die
die Hassock-Schlucht überspannte, fiel sein Blick auf Vater
Lashrons Haus. Es ragte halbkugelförmig aus dem groben Geröll
des Ufers; sein eigenartig bläuliches Material schimmerte wie
immer, eine Folge der ständigen Benetzung durch den Gischt der
Brandung.
Sonst hatte dieser Anblick immer eine instinktive Scheu bei
Sidni-Stem erzeugt. Diesmal erregte er nur die stark ausgeprägte
Phantasie Stems.
Er fragte sich, warum Vater Lashron sein Haus ausgerechnet in
dieser nassen Einöde errichtet hatte und warum weder die
Brandungswogen noch die seit vielen Jahrhunderten anprallenden Steine
dem Material etwas anzuhaben vermochten. Es wirkte seltsam narbig,
als hätte man mehrere Stellen ausgebessert; aber das erschien
Sidni-Stem höchst unwahrscheinlich. Er kannte nichts, was diesem
Material auch nur einen Kratzer beizubringen vermochte.
Als die Straße vor ihm sich senkte und er die Wohn- und
Fabrikgebäude von Babakow-City erblickte, waren die Gedanken an
Vater Lashron wie weggewischt.
Dort unten lebte Irul-Luzie, und ihre Botschaft verriet, daß
sie ihn erwartete. Sie würden nach dem üblichen Festmahl
ganz allein sein, und später, vielleicht, gingen sie auf die
Veranda und blickten hinüber zu dem Großen Nebel, der sie
schon immer fasziniert hatte. Der Große Nebel sah aus wie ein
gigantisches elliptisches Rad; seine Nabe schien aus einer Kugel
leuchtender Gase zu bestehen. Es weckte ganz eigentümliche
Gefühle, wenn man in einer wolkenlosen Nacht zu diesem
strahlenden Gebilde hinüberschaute, undefinierbare Gefühle.
Die
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