PR TB 069 Menschen Aus Der Retorte
Überlieferung der Alten besagte, daß der Große
Nebel nichts anderes sei als eine unvorstellbare Anzahl spiralförmig
angeordneter Sonnen. Man hatte es bisher hingenommen, halb ungläubig,
halb mitleidig lächelnd. Es lag außerhalb der
Vorstellungskraft der Clone-Bürger, daß eine Ellipse aus
leuchtenden Gasschleiern Sonnen enthalten könnte.
Auch Andersen Sidni-Stem dachte nicht anders.
Heute aber beschlich ihn die Ahnung, daß die Alten doch
recht gehabt haben könnten. Vielleicht waren sie gar von einem
Planeten aus dem Großen Nebel gekommen! Woher hätten sie
sonst wissen sollen, daß er in Wahrheit aus unzähligen
Sonnen bestand!
Gerade noch rechtzeitig konnte Stem diese Gedanken abschütteln.
Fast wäre er geradeaus weitergefahren, obwohl die Straße
hier eine scharfe, stark überhöhte Kurve beschrieb. Er
schauderte zusammen; nicht nur, weil er knapp an einem Todessturz
vorbeigekommen war, sondern auch, weil er ahnte, daß nach Vater
Lashrons Enthüllungen sein Leben nie mehr so sein würde wie
zuvor.
Etwas vorsichtiger steuerte er den Wagen auf die unterste
Stadtebene hinab. Die Luft war diesig und angefüllt mit den
penetranten Gerüchen der Fischverarbeitungsfabriken und
Gerbereien. Es wurde Zeit, daß der Abend kam und mit ihm der
Landwind, der die Gerüche aufs Meer trieb.
Wieder einmal verwünschte er die Tatsache, daß
Irul-Luzie am anderen Ende der Riesenstadt wohnte. Hier lebten und
arbeiteten anderthalb Millionen Menschen, in einem relativ engen
Talkessel am Meer, denn das Meer nährte und kleidete sie,
lieferte alle notwendigen Minerale, Trinkwasser und das Deuterium für
die Fusionskraftwerke. Das Landesinnere bot keinen Anreiz für
eine Besiedlung. Dort war es während der Sommerjahre zu heiß.
Die Vegetation war kümmerlich und nicht rationell nutzbar. Nur
Jäger oder Prospektoren wagten sich ins Binnenland; die Jäger
mit mäßigem Erfolg; die Prospektoren gänzlich
erfolglos. Jedenfalls bisher. Aber sie würden weitersuchen, denn
Vater Lashron hatte es so bestimmt; er schickte sie mit Proben
unbekannter Metalle hinaus, deren entsprechende Erze sie finden
sollten. Und Vater Lashrons Wort war Gesetz auf Refuge.
Endlich hielt er auf dem überdachten Parkplatz des
Appartementhauses, das wie eine halbierte Säule aus der
geglätteten Felswand ragte, die die Bucht nach der Landseite
begrenzte. Die Terrassen sahen von unten aus wie wahllos an die
Hauswand geklebte Trapeze. Hier und da erkannte Sidni-Stem Bewegung,
aber die meisten Wohnungen waren
leer; um diese Zeit gingen Männer und Frauen ihrer Arbeit
nach.
Stem fürchtete plötzlich, Irul-Luzie nicht anzutreffen.
Er eilte durch die Vorhalle und stürzte sich förmlich in
den Pneumolift, der die C-Sektion der fünfundvierzigsten bis
achtundsechzigsten Etage versorgte.
Als er vor Luzies Tür stand, wartete er ein wenig, um sich zu
beruhigen. Dann preßte er entschlossen die Hand auf den
Türmelder. Sekunden später glitt die Tür geräuschlos
zur Seite.
Im Schein der Flurbeleuchtung stand Irul-Luzie, schlank für
refugische Begriffe, mit schwach hellblau getönter Haut,
schwarzem Haar und bekleidet mit einem sehr knapp geschnittenen
Chiton aus goldbestäubtem Neoplastik.
Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem höflichen Lächeln,
wie es sich einem Gast gegenüber gehörte. Aber ihr Blick
verriet ihm mehr als dieses Lächeln.
Sidni-Stem trat zu ihr, nahm ihre Hände und küßte
sittsam ihren Hals.
„Willkommen in meinem Reich, Stem“, sagte Luzie.
Die Tür schloß sich, und sie zog ihn mit in den
geräumigen Gemeinschaftsraum. Drei Männer erhoben sich bei
Stems Eintritt aus bequemen Sesseln. Er erkannte Barbra-Hines, einen
Kraftwerksingenieur, Nooni-Lisk, einen Meeresfarmer und Betty-Inger,
den freiberuflichen Jäger.
Verwundert wölbte Sidni-Stem die Brauen.
Es war üblich, daß die ganze Familie sich versammelte,
wenn ein Freund aus der Regenerierung zurückkehrte. Doch da
fehlten Nanzie-Woom und Chorma-Neeches, die beiden Prospektoren.
Die Begrüßung fiel nichtsdestoweniger herzlich aus, so
daß Sidni-Stem die Befürchtung beiseite schob, man wollte
ihn brüskieren Dennoch wandte er sich nach Luzie um und warf ihr
einen fragenden Blick zu.
„Sag du es ihm, Inger!“ meinte Luzie, und ihr Gesicht
wurde plötzlich ernst und verschlossen.
Betty-Inger vergrub seine schwieligen Hände in den großen
Taschen seiner Lederjacke und starrte auf den Boden, während er
grollend sagte:
„Sie sind tot. Luzie schickte mich in
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