PR TB 095 Die Spur Des Gehetzten
sich
die Stadt, aber dieser Fortschritt war sehr vordergründig;
nichts brachte die vielen Toten wieder. Aber dadurch, daß
unzählige Arme Arbeit fanden, nahm das Proletariat ab. Es war
allerdings weitaus weniger zahlreich als die Bettlerheere des
Armagnac in Paris gewesen.
»Und hast du mit Rico gesprochen?«
»Zweimal«, erwiderte ich. »Nichts. Der Fremde
schweigt. Vermutlich haben sie feste Termine vereinbart. Unser
schönes Leben hier dauert noch an, Alexandra.«
Als das Boot auf den Anlegeplatz unseres Hauses zuglitt, sahen
wir, daß das Nachbarhaus
ebenfalls wieder bewohnt war. Ein großer, schlanker Holzbau
mit einer steinernen Umfassungsmauer und vielen kleinen Fenstern. Aus
dem Kamin kam eine dünne Rauchsäule, in den Fenstern sah
man die Lichter von Fackeln und Öllämpchen.
»Wir haben Nachbarn bekommen.« ,
»Nachbarn mit kleinen Kindern«, sagte ich. »Man
hört es. Die stillen Tage sind vorbei.«
Aus dem Nachbarhaus kam das Geschrei eines Säuglings. Während
wir die festliche Kleidung ablegten, hörte ich, wie ein größeres
Boot an der Treppe zum Wasser anlegte. Ich hörte Stimmen.
Alexandra beugte sich aus dem Fenster und sagte:
»Ein Boot mit fünf Männern, die die Kleidung der
Diener des Dogen tragen.«
Wir blickten uns überrascht an, als auch schon an die Tür
geklopft wurde. Es klang nicht so, als ob mich Männer des
Zehnerrates verhaften wollten.
Vergiß nicht die Krankheit des Dogen! flüsterte der
Extrasinn. Ich rannte die Treppe hinunter, zündete einige Kerzen
an und öffnete die Tür, den silbernen Leuchter hochgehoben.
»Ihr seid Herr Atlan?« fragte ein Mann mit langem,
sorgenvollen Gesicht.
»Ja. Was soll diese Störung zu spätester Stunde?«
erkundigte ich mich halblaut.
Aus dem Nachbarhaus schrie eine Frau: »Ruhe!«
»Ihr sagtet, Ihr wäret Arzt. Könnt Ihr dem Dogen
helfen?« Ich schluckte; das war es also gewesen. Hier lagen
eine gewaltige Chance und auch ein großes Risiko dicht
nebeneinander.
»Ich muß ihn vorher sehen, vorher untersuchen können«,
sagte ich.
»Könnt Ihr gleich mitkommen, Herr Bracciolini?«
»Wartet hier!« sagte ich.
Ich nahm den Leuchter, ging schnell die Treppen hoch und wurde von
Alexandra erwartet. Sie hatte fast jedes Wort verstanden.
».Pest?« fragte sie.
»Sicher nicht. Seit der Ansteckung wäre schon eine zu
lange Zeit vergangen. Er wäre längst tot, hätte er die
Schwarze Pest gehabt.«
»Kannst du ihm wirklich helfen?« fragte Alexandra
besorgt.
»Vielleicht!« erwiderte ich. »Jedenfalls werde
ich es versuchen.«
Ich holte den großen ledernen Beutel aus meiner Werkstatt,
zog mir eine Jacke an und rannte wieder hinunter. Nach einer
schnellen, schweigenden Fahrt legten wir am Dogenpalast an, und man
führte mich durch große, prächtige Hallen, durch
Korridore, in denen Wachen standen, über eine Terrasse im
Sternenlicht und in das Schlafgemach des Dogen.
Als wir eintraten, war es, als ob mich eine Faust träfe. Das
Zimmer war dunkel und stickig, und es roch nach den Ausscheidungen
eines, der wochenlang krank gewesen war. Die großen Fenster
waren verhängt, am Boden standen Feuerschalen, in denen ätzendes
Harz verbrannte. Selbst ein Gesunder mußte hier krank werden!
Ich bewegte mich durch die stickige Luft, ging über tiefe
Teppiche, aus denen unter meinen Schritten Staubwolken aufstiegen,
und näherte mich einem prunkvollen Bett mit vier Säulen,
über denen ein seidener Himmel sich spannte. Je mehr ich mich
der abgezehrten Gestalt näherte, die auf schmutzigem Leinen lag,
desto mehr stank es.
Ein schwarzgekleideter Mann mit dem Gesicht eines Geiers, der auf
Beute lauerte, erhob sich und kam auf mich zu, mit den, Armen wie mit
Schwingen schlagend.
»Helft!« zeterte er. »Er kann nicht mehr atmen!
Der Doge stirbt.«
Ich wandte mich an ihn und sagte:
»Beschreibt, wann die Krankheit begann und wie sie sich
darstellte.«
Während er aufgeregt zu reden begann, sagte ich zu den
Dienern, die außerhalb des Lichtkreises standen:
»Ich brauche einen kleinen Raum, sehr sauber, ohne viel
Stoffe, mit großen Fenstern. Stellt dort ein Bett auf, mit
neuen Linnen und neuer Unterlage. Und bringt heißes Wasser.«
Ich höre zu, näherte mich dem Dogen und zog mein
eisernes Amulett, den Zellaktivator, aus dem Hemd. Zunächst
einmal legte ich ihn dem alten Mann auf die knöcherne Brust. Das
Hemd sah aus, als wäre es noch nie gewaschen worden.
»Und jetzt, seht!« schrie der Leibarzt.
»Ich sah es deutlich, als ich
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