PR TB 159 Insel Der Ungeheuer
Anführerin
werden.
»Ich kann Tychea verstehen. Aber niemand hilft uns, wenn wir
uns nicht selbst helfen.«
»Denke daran, wie sich Aison rächt, wenn seine Freunde
bedroht werden!« gab Derione zurück und befingerte die
kantige Spitze eines Pfeiles.
»Ich denke daran. Auch meine Eltern wurden erschlagen.«
Sie sahen sich an und lächelten ein wenig. Rea war Deriones
Freundin.
»Wir brauchen Fleisch!« erinnerte Rea.
»Wir werden Fleisch bringen!« versprach Derione. Sie
schulterte die drei leichten Wurfspeere mit den langen Bronzeblättern
und ging weiter. Sie hatten den lautlosen Kampf in der Luft
beobachtet. Natürlich hatte die Vogelfrau gesiegt. Sie siegten
immer.
Aber sie durften die Insel nicht beherrschen! Nicht sie, und auch
Aison nicht!
Die Insel - ein Paradies!
Ein langgezogenes Eiland, vom Meer umrauscht, voller Wald und
Wild. Das Klima war heiter und erfreute die Siedler mit seiner
Ausgeglichenheit. Harte Gegensätze waren dem Paradies fremd; im
Sommer besänftigten kühle Winde die Hitze. Weil das Land
auf allen Seiten von der See umgeben war, blieben auch die Winter
mild und dauerten selten lange. Der Boden war fruchtbar, denn die
kleinen Ebenen, die durch bewaldete Berge voneinander getrennt waren,
boten sich geradezu den Menschen dar. Ein Geschenk der Götter,
dieses Eiland. Eichen, Zypressen und Tannen wuchsen so dicht, daß
nicht einmal die Jägerinnen des Bergstamms alle Teile der Insel
kannten. Das Wild war reichlich und in vielen Arten vertreten
-gefährlichen und ungefährlichen.
Löwen und Auerochsen, wilde Ziegen, Wölfe und Bären,
Schwein, Rind und Schaf und auch die schwarzfelligen Wildschweine gab
es hier. Das Meer war voller Fische, die Luft voller Vögel.
Wein, Weizen und Oliven wuchsen auf den Feldern und in den Hainen der
Bauern.
Die zwei Jägerinnen bewegten sich fast lautlos in der Nähe
des Pfades, den die Hirsche und Hindinnen benutzten, um an den
winzigen Bergsee zu kommen. Der Stamm brauchte frisches Fleisch.
»Sag.?« begann Rea, die hinter Derione ging. Sie
stockte.
Die Jägerin, nur mit einem Lendenschurz aus Hirschleder,
einem Leinenhemd mit kurzen Ärmeln und den knielangen,
kreuzweise geschnürten Lederstiefeln bekleidet, drehte sich
nicht um.
»Sprich!« forderte sie Rea auf.
»Tychea hat erzählt, daß die Menschen auf dieser
Insel aus allen
Richtungen über das Meer gekommen sind. Vor langer, langer
Zeit. Glaubst du ihr?«
»Ja. Ich glaube ihr. Auch meine Eltern haben es erzählt.
Und mein Vater, der ein Fänger der großen Fische war, hat
viele von ihnen kommen gesehen.«
Ihr Wissen war nicht klar und genau, sondern ihnen in der Art von
Liedern, Sagen und Märchen überliefert worden. Vom Osten
und Westen, vom Norden und Süden waren immer wieder kleine
Gruppen in das Paradies der langgestreckten Insel gekommen. Sie zogen
die Schiffe auf die Strande und ließen sie vermodern. Später
bauten einige von ihnen Boote, um Fische zu fangen.
»Und sind auch die Fremden übers Meer gekommen?«
fragte Rea. Sie wußte nicht, was sie glauben sollten. Sie
verließen jetzt den dichteren Teil des Waldes und näherten
sich einer der unzähligen Quellen, die es hier gab. Das Wasser,
das aus ihnen sprudelte, war frischer als der Morgenwind.
»Man sagt, sie sind aus der Luft gekommen. Von den Sternen,
in der Nacht. Jemand hat es Tychea erzählt, aber es kann auch
ein Lügner gewesen sein. Denn nichts kommt von den Sternen,
abgesehen vom Tau.«
Eine wirre Sage: Derione glaubte nichts davon. In einer Nacht war
am Himmel ein langer Lichtstreifen erschienen. Er war zwischen den
Sternen in einer Bahn dahingerast wie ein Brandpfeil. Das weißgelbe
Feuer und der Donner eines unsichtbaren Gewitters hatten damals
-wann? - die Insel erschüttert. Das Licht von den Sternen war
zischend wie kochende Bronze in die See gefallen, und aus der
gewaltigen Wolke aus weißem Dampf waren die fremden Geschöpfe
gekrochen.
Aison mit seinen gepanzerten Männern.
Dazu die Wesen, die sich in alle Gestalten verwandeln konnten. Und
die anderen, die aussahen wie eine Kreuzung aus Jungfrau und
Raubvogel. Und die Menschenpferde. Und die kleineren, eisernen Vögel,
auf den höchsten Klippen über der See hausend.
»Unsinn. Sie kamen aus der Unterwelt. Aus den vielen Höhlen.
Sie sind nicht gezeugt worden, sondern man hat sie aus
fleischgewordenen Fluchen geboren!« sagte Derione mit
Nachdruck. »Es sind Gestalten aus Spukträumen.«
Derione hatte sie alle gesehen.
Aber niemals so nahe, daß
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